Runde 2, Tag 8

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Alex saß im Keller des riesigen Hauses. Er starrte stumpf auf den weißen Verband um seine gebrochenen Finger. Zwei Menschen hatte er schon getötet. Mehr als er je vorhatte. Er hatte eigentlich nie auch daran gedacht überhaupt einen Menschen zu töten. Nicht einmal in einer virtuellen Welt. Also warum zum Teufel hatte er es trotzdem gemacht? War er in so kurzer Zeit zu einem so schlechten Menschen geworden? Ging das überhaupt? Fragen über Fragen die ihm durch den Kopf strömten. Inzwischen wussten die drei überlebenden Opfer, dass ihre Mörder sich im selben Haus aufhielten wie sie. Paul hatte ihnen eine mehr als verständliche Nachricht ins Holz geritzt. Und Tim hatte es auch gewusst...nur war er tot. Und wessen Schuld war das?
"Alex?" Er sah auf. Ovid saß ihm gegenüber im Halbdunkeln.
"Du denkst zu viel darüber nach. Das tut dir nicht gut."
Alex seufzte. "Es tut mir auch so nicht gut."
Er sah wie Ovid mit den Schultern zuckte.
"Siehst du?"
"Verdrängst du es denn?" Von dem Dunkelhäutigen kam ein zustimmendes Gemurmel. Danach kehrte wieder Schweigen in das Kellergewölbe ein.
Irgendwann kam Paul wieder. Der junge Mann setzte sich ebenfalls auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Das blondbraune Haar hing ihm ins Gesicht und seine Augen blitzten darunter hervor.
Alex wandte den Blick von ihm ab. Paul war vielleicht ein Mörder, aber er kannte die Härte der realen Welt. Er kannte ihr ganzes Ausmaß, die Grausamkeit und die Wahrheit. Doch er hatte es tief in sich verschlossen...im Grunde war er schwach.
Im Grunde waren sie alle schwach. Ja, Mörder konnten schwach sein.
Alex sah zu Ovid hinüber. Er wünschte sich zu wissen wie der Dunkelhäutige darüber dachte.
Doch er wusste, Ovid würde nicht antworten.
"Kann ein Gewissen je wieder rein werden, wenn man einen Menschen getötet hat?", fragte er in diesem Moment. Alex legte den Kopf schief und sein braunes Haar verdeckte seine Gesichtszüge. "Ein Mord ist nicht leicht. Für niemanden. Aber wer nicht darüber redet, der leidet auch nicht so arg.", sagte Paul leise. Ovid sah ihn an.
"Die Menschen reden zu wenig. Dadurch kommt es zu Missverständnissen." Paul lachte und es hallte leise. Freudlos...vielleicht klang es auch grausam.
"Nein, ganz im Gegenteil. Es kommt zu Missverständnissen, gerade weil Menschen zu viel reden. Manchmal ist Klappe halten besser."
"Sagt das Großmaul.", murmelte Alex und bereute es sofort.
Paul sah ihn eindringlich an.
"Du hast recht. Denn gleichzeitig muss man den Menschen sagen was sie sind."
Ovid verschränkte die Arme.
"In dem du sie beleidigst und blöd anmachst?"
Paul beugte sich vor.
"Böse Worte sind die einzigen Worte die sie hören. Der Rest versickert nur wie Wasser."
Alex musste an Sara denken.
Versickerten ihre Worte auch irgendwann? War das einzige woran sie alle sich an Valos erinnern würden Pauls Großmaul?
Ovid nahm sich eine Decke und verzog sich in den Schatten.
Er war kaum noch zu sehen und regte sich kein Stück. Als wäre er nie dagewesen.
Alex verglich ihn unwillkürlich mit einer Erinnerung.
Erinnerungen lauerten im Schatten und brachen plötzlich hervor...die letzten Überreste der Vergangenheit.
Paul erhob sich. "Komm Alex, Zeit zum Denken hast du später noch." Der junge Mann griff nach seinem Messer und stand ebenfalls auf.
"Was willst du jetzt tun?"
Und Paul lächelte wieder, dieses unmenschlich, böse Lächeln.
Ein Mann mit zwei Gesichtern.
"Ich will den Tiger. Und ich habe schon etwas ganz Besonderes für ihn."

Sie waren hier. Sie waren verdammt nochmal hier und keiner von ihnen wusste wo. Helene war unwohl. Nun kam es ihr wirklich vor wie in einem Horrorfilm. Drei gegen drei. Mörder und Opfer...
Helene wollte nicht hier sein. Sie wollte auch nicht sterben...aber eine Wahl für das Leben gab es hier nicht. Ari sah besorgt aus, bei Maxi regte sich keine Miene. Helene hatte das Gefühl, dass sich bei ihm nie eine Miene regte.
Er kam ihr wirklich herzlos vor...so wie sie es über den Fernseher mitbekommen hatte. Hatte Maxi Ahnung vom Sterben? Helene zog die Knie an und schauderte. Sie hatte es.
In Valos gab es keine Träume, doch sie wusste, dass in der realen Welt schreckliche Gedanken und Erinnerungen auf sie warteten.
Blitzende Klingen, rotes Blut, ihre eigenen Schreie. Alex hatte ihr beim Sterben zugesehen, Samuel hatte sie getötet. Jetzt schien der junge Mann gar nicht mehr wie ein Mörder...eher schwach und gebrochen.
"Wir teilen uns auf und suchen sie." Helene zuckte bei Maxis Vorschlag zusammen. "Vergiss es! Das ist es doch was sie wollen!"
Ari biss sich auf die Lippe, etwas das er häufig tat.
"Wir müssen sie schneller finden. Wenn wir alle auf einem Fleck sind, haben wir keine Chancen!"
Helene konnte es nicht fassen. Waren die beiden wirklich so dumm? Oder sollte das bloß ein schlechter Scherz sein? Sie hoffte inständig auf letzteres.
"Helene, du schaust oben in den Zimmern. Ich mache die Bäder und Küche und Ari schaut draußen und im Keller." Sofort erhoben sich die beiden Männer.
"Das ist die schlechteste Idee überhaupt!", sagte Helene und ihre Stimme überschlug sich.
"Es wird nicht lange dauern und du hast außerdem ein Messer.", versuchte Ari sie zu besänftigen.
Helene wusste wie es kommen sollte...wie es kommen musste! Einer von ihnen würde draufgehen und dann waren die Mörder in der Überzahl.
"Wir hätten früher etwas tun sollen!" Maxi breitete die Arme aus. "Das können wir jetzt aber nicht mehr ändern! Helene wir müssen etwas tun!"
Die junge Frau erhob sich. Sie blieb dennoch zu klein um auf Augenhöhe mit Ari und Maxi zu sein. "Aber nicht das Falsche! Wir haben die ganze Zeit das Falsche getan!" Ari sah sie plötzlich sehr sanft an.
"Hey Helene", er legte ihr eine Hand auf die Schulter, "Die Runde muss beendet werden, egal von wem. Und Fehler sind menschlich. Es werden sicher noch welche sterben. Aber das ist die einzige Möglichkeit aus Valos zu entkommen." Helene starrte ihn an. "Ihr begeht Selbstmord."
Maxi schüttelte leicht den Kopf.
"Das haben wir schon sehr viel früher getan."
Dann drehte er sich um und ging die Treppen hinauf. Ari lächelte nocheinmal aufmunternd, dann verschwand er nach draußen.
Und wieder einmal fühlte Helene sich einsam und hilflos.
Sie ließ mit einem einzigen Gedanken an die Mörder das Messer in ihrer Hand erscheinen und trottete die Treppe hinauf. Sie begann im letzten Zimmer.
Und dort stand sie vor dem Bett und weinte plötzlich, weinte weil Robin und Sara nicht alleine gestorben waren.
Sie würde alleine sterben...immer und immer wieder. Alleine und hilflos...mehr konnte sie im Leben nicht erreichen.
Sie wusste nicht wie viele Menschen ihr beim weinen zusahen und es war ihr auch egal. Es war nicht das erste Mal in diesem Projekt.

Als Maxi ins Bad ging hörte er Helene nicht weinen. Um ihn herum war es still.
Er schaute in den Spiegel. Nur sein eigenes Gesicht, sonst nichts.
Kein Wort, das ihn blutig als Monster bezeichnete. Er wusste immer noch nicht wer es getan hatte und er war sich auch nicht sicher, ob er es wissen wollte. Im Mädchenbad fand er nichts. Als er wieder nach draußen auf den Gang trat, begegnete ihm Helene die rasch und mit roten Augen ins nächste Zimmer ging. Maxi fragte nicht nach, es kam ihm unhöflich vor.
Er ging schweigend ins Jungsbadezimmer und sah dort aus dem Fenster. Draußen konnte er Ari sehen, der wohl gerade die nähere Umgebung des Hauses auskundschaftete.
Er sah angespannt aus und bewegte sich vorsichtig. Maxi wusste nicht wieso er der Tiger war. Ari ähnelte genauso einer Raubkatze, aber eher einem Panther.
Maxi wurde von einem Hüsteln hinter sich aus seinen Gedanken gerissen. Er schrak zusammen und fuhr herum. Für einen kurzen Augenblick sah er Alex und Paul, dann zog ihm ersterer mit einer Holzlatte eins über.
Sterne und Funken explodierten vor Maxis Augen, dann brach er ohnmächtig zusammen.

Er blinzelte. Sein Schädel dröhnte vor Schmerz und er war überrascht noch zu leben. Mühsam hob er den Kopf und blinzelte ein paar mal um seinen Blick zu fokussieren. Verwirrt betrachtete er die Situation. Er war immer noch im Bad, nur lag er jetzt in einer randvollen Badewanne mit lauwarmen Wasser. Seine Kleidung hatte sich schon komplett vollgesogen. Am Ende der Wanne stand Paul und beobachtete ihn.
"Na? Wieder bei Sinnen Raubkatze?" Maxi stöhnte leise.
"Du weißt ja gar nicht wie aufregend dieser Moment für mich ist. Ich stehe hier vor dem Sieger der ersten Runde, dem Tiger, dem Champion." Maxi hob die Hände aus dem Wasser und klammerte sich am kalten Steinrand fest. Er fühlte sich ganz und gar nicht wie ein Champion.
"Was willst du?", ächzte er, obwohl die Antwort klar auf der Hand lag.
"Dein Leben Mieze. Du bist gar kein so mutiger Tiger oder? Sonst hättest du uns bestimmt schon alle kalt gemacht." Maxi wollte aufstehen, doch da legte sich von hinten eine kalte Klinge an seine Kehle und zwang ihn zurück. "Bleib ruhig liegen, dass ist für alle einfacher."
Dem jungen Mann war unklar was Paul vor hatte, bis dieser einen Handföhn hinter seinem Rücken hervor holte. Eine Welle kalten Schocks überspülte ihn.
"Oh Gott du Wahnsinniger!", keuchte er, konnte aber nichts tun, denn die Klinge hielt ihn in Schach.
"Ja, vielleicht bin ich ein bisschen wahnsinnig. Aber für den Sieger soll es doch was Besonderes sein!"
Maxi umklammerte den Badewannenrand so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. "Tiger sind ausgestorben. Warum also sollst du noch leben?"
Er drückte den Stecker des Föhns in eine der Steckdosen und das Gerät summte leise los.
Maxi wollte seine Angst nicht zeigen, doch Pauls Mimik nach konnte er sie nicht verbergen.
"War schön dich als Gegner zu haben...Schlaf gut Tiger!"
Da löste sich Alex' Klinge von seinem Hals und Maxi fuhr auf, doch zu langsam. Der summende Föhn fiel Paul aus der Hand und platschte ins Wasser.
Der Stromschlag war heftig und er tötete Maxi auf der Stelle. Der junge Mann sackte zurück ins Wasser und das Kinn fiel ihm auf die Brust.
Paul zuckte mit den Schultern und verließ das Bad. Mit einem letzten Blick auf den Toten folgte Alex ihm.

Helene und Ari brauchten nicht lange um ihn zu finden, nachdem sie sich wieder getroffen hatten. Die junge Frau wollte zu ihm, doch Ari hielt sie zurück.
"Besser nicht.", murmelte er.
"Vielleicht könntest du auch einen Stromschlag kriegen...ich kenne mich da nicht aus." Helene blieb also bei ihm stehen und stumm sahen sie zu dem reglosen Maxi. Das Kinn auf der Brust, die Haare im Gesicht und seine Arme hingen über den Wannenrand.
"Er hat es nicht verdient." Ari lächelte traurig. "Keiner hat es verdient."
Er nahm sie am Arm und führte sie aus dem Zimmer.
"Ich habe doch gesagt das es eine schlechte Idee ist!"
Ari nickte. "Ich weiß, beruhige dich. Ab jetzt trennen wir uns nicht mehr."
Helene unterdrückte ein Schluchzen und folgte ihm auf sein Zimmer.
"Leg dich hin.", sagte Ari leise und sie tat es. Er selbst trat ans Fenster und sah hinaus. Es war schon wieder später Abend. Trotz der Dunkelheit könnte Ari bedrohliche Wolkentürme in den Bergen entdecken.
Schon wieder nahte ein Gewitter.
Die Spielemacher setzten es echt auf das Horrorfeeling an.
Ari schauderte und wandte sich von der Aussicht ab.

Der Geruch von Regen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt