Tim hatte das Gefühl, dass es immer schlimmer wurde. Noch hatte er Luis nichts davon erzählt. Sein Bewusstsein schwankte zwischen Valos und der realen Welt. Er hatte keine Kontrolle mehr über seinen virtuellen Körper und hoffte stark, dass diese Schwankung nicht in einem Kampf auftreten würde. Dann hätte er große Probleme und von denen brauchte er nicht mehr.
Sie folgten inzwischen etwas widerwillig der Nadel des Kompasses, welche nun schon sehr oft ihre Richtung geändert hatte. Die Wolken vom Meer hatten sie inzwischen erreicht und hingen düster und bedrohlich über ihnen.
Luis hatte keine gute Laune, mit einem grimmigen Ausdruck sah er auf den Kompass und latschte in die Richtung der Nadel.
Tim folgte ihm, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Keine Weile später begann es zu nieseln. Tims Haare hingen im klatschnass ins Gesicht und Luis sah aus als könnte er gleich auf alles und jeden losgehen.
"Ich hab genug von Regen. Von unechtem Regen.", knurrte er.
Tim stimmte ihm zu und sah kurz über seine Schulter auf den Kompass. Sie waren dem Wald schon sehr viel näher gekommen.
Über ihnen rumpelte es, dann wurde der Regen heftiger. Immerhin war er nicht eiskalt.
"Wir gehen jetzt in den Wald, scheiß auf den Kompass. Da ist es vielleicht trockener."
Tim nickte zustimmend, in T-Shirt und kurzen Hosen war der Regen echt unangenehm.
Kurz darauf erreichten sie den Wald, doch die Tropfen wurden nur etwas vermindert.
Eine Weile liefen sie in keine bestimmte Richtung, lauschten dem Prasseln des Regens auf den Blättern und ärgerten sich über die Nässe.
"Wenn sie uns schon hierzu zwingen, könnten sie es wenigstens schön gestalten.", beschwerte Luis sich. Tim verdrehte die Augen.
"Dann wäre es aber viel zu freundlich dafür, dass wir Testobjekte sind." Sein Partner schnaubte und schüttelte verächtlich den Kopf, woraufhin Tropfen von seinen Haaren in alle Richtungen flogen.
Er antwortete nicht.
Tim fragte sich, ob die Spielemacher das ganze tatsächlich noch als Test sahen und Ergebnisse und Verbesserungen daraus zogen, oder ob es nur noch der Vergnügung von wahnsinnigen Psychoten diente.
Vielleicht war das ganze auch nur ein Projekt, dass an das Militär weitergegeben wurde um die Soldaten vorzubereiten. Das wäre sogar eine logische Erklärung, immerhin waren Schmerz und Blut hier am realistischsten.
Tim erzählte Luis von seiner Überlegungen und dieser runzelte die Stirn.
"Kann gut sein. Internationaler Handel weil die kriegführenden Nationen nicht das Geld oder die Wissenschaftler auftreiben können. Wie es auch sein mag, das hilft uns nicht hier jemals herauszukommen."
Tim hatte sich die ganze Zeit schon darauf vorbereitet sich damit abfinden zu müssen, dass es kein danach und kein Ende dieses Projektes für sie gab.
Niemand würde ihre Schreie hören, ihre Versuche auszubrechen würden misslingen, kurz; sie waren gefangen. Und so ziemlich tot.
Was sollte sie schon groß erwarten?
Die Welt strebte auf ihren Untergang zu, doch alle schlossen die Augen davor.
Rettung.
Es war ihre Hoffnung, doch Hoffnung starb mit dem Verstand.
Luis seufzte und Tim warf ihm einen kurzen Blick zu. In der ersten Runde war der junge Mann verunsichert, in der zweiten nachdenklich und in der dritten missmutig.
Wenigstens sterben wir gemeinsam.
Ein Haufen Erwachsener die sich alle nicht kannten, aber sich dennoch getötet hatten.
Was ein trauriges Ende.
Tim wurde langsam kalt, der Regen nervte ihn und es war recht dunkel.
Plötzlich stolperte Luis und er konnte sich einen leisen Schrei nicht unterdrücken.
Tim sah zu ihm und erstarrte ebenfalls.
Luis war über eine Person gestolpert.
Im Dunkeln kaum vom Boden zu unterscheiden, lag dort Ovid unter einigen Blättern und starrte mit offenen Augen in die Unendlichkeit.
Seine Hände und sein Hemd waren voller Blut und doch ging kein Gestank von ihm aus.
Luis und Tim sahen den jungen Mann einen Moment an.
Er war erstochen worden, ganz offensichtlich.
"Der Kompass leitet uns vielleicht direkt zu seinen Mördern.", murmelte Luis und klang sehr, sehr besorgt.
Auch Tim wurde mulmig. Rasch wandte er sich von der Leiche ab, ihm war der Anblick zu widerwärtig.
"Sie könnten im Dunkeln auf uns lauern.", sagte Luis besorgt und sah sich um.
Tim fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht.
"Und wenn schon, bei der Leiche bleibe ich nicht."
Die beiden gingen dicht nebeneinander weiter, sahen sich immer wieder um und lauschten auf verdächtige Geräusche.
Nur das Heulen des Windes, das Rauschen des Regens und das Grollen des Himmels störte die nächtliche Ruhe.
Und da nahm Luis ihn zum ersten Mal bewusst wahr, kaum ein Hauch, untergehend wie die Sonne. Der Geruch von Regen.
Er war sich so sicher, dass ein Lächeln auf sein Gesicht schlich.
Sara hatte Unrecht gehabt, man konnte ihn auch während des Regens wahrnehmen.
Und gleichzeitig hatte sie recht gehabt; der Geruch von Regen musste der schönste Geruch von allen sein.
Er täuschte sich. Illusion. Er verlor sich in Valos. Es war nur virtuell.
Und trotzdem ließ sich Luis nicht die Wahrheit nehmen, dass er existierte.
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Der Geruch von Regen
Science Fiction"Valos" oder auch "Virtuell Avatar 01" genannt, ist ein neues Projekt, dass ein großer Schritt für die moderne Technologie werden soll. Doch bevor es auf den Markt kommt, wird es von 14 Testpersonen geprüft. Allerdings wird es für die kleine Gruppe...