Helene

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Name: Helene Raisinger
Alter: 18
Eingewiesen wegen:
Vermutlicher Neurose, Panikattacken

Helene trug ein Papierarmband.
"Geistig verwirrt" stand darauf, dabei hatte sie vermutlich nur Neurose.
Aber es war eine Rechtfertigung dafür, dass sie durch das ganze Psychiatriezentrum geistern durfte ohne aufgehalten zu werden.
Sie war schreckliche ruhelos und wollte sich nie lange an einem Ort aufhalten.
Ihr gefiel es durch die langen Gänge zu wandern, die Bilder zu betrachten oder in der Bibliothek Bücher anzuschauen.
Die Bibliothek war ein Raum voller Sessel, Sofas und Sitzkissen.
Auf einem Computer konnte man sich ein Buch aussuchen, welches dann vor einem in die Luft projiziert wurde oder nach Wunsch vorgelesen wurde.
Helene ließ sich oft vorlesen.
Am liebsten die Tribute von Panem, denn das uralte Buch erinnerte sie an ihre eigene Geschichte in Valos.
Gezwungen die anderen zu töten oder selber zu sterben, es gab nur einen Sieger und alles war auf Kamera.
Allerdings gab es keine Revolution, keine Romanze und keine grausame Politik in ihrer Realität.
In ihrer jetzigen Welt kannte sie nur die Ruhelosigkeit und die Einsamkeit.
Sie wünschte sie könnte sich jemandem anvertrauen, aber die Angst verraten zu werden war größer.
Am schlimmsten war die Erinnerung die sie täglich zur selben Zeit einholte und keinen Platz für andere Gedanken ließ.
Paul.
Er war gemein, blutrünstig, grausam, fies und...trotzdem blutete und starb er wie alle anderen.
Sie hatte sein Ächzen gehört, das Gewicht gespürt, als Paul tot auf ihr zusammensackte.
Und sie erinnerte sich genauso klar an Ovid.
Paul war böse gewesen, aber nichtsdestotrotz ein Mensch.
Helene starrte seit einer gefühlten Ewigkeit auf das Bild vor ihr, während die Erinnerungen sie wie Schatten durchzogen.
Schreckliche Schmerzen waren mit diesen Erinnerungen verbunden, Phantomschmerzen die sich schrecklich real anfühlten.
Pauls Gewicht auf ihrem Rücken und das Messer, welches in ihrer Schulter steckte und gedreht wurde.
Dieser grausame Schmerz.
Helene schauderte und wandte sich von dem Bild ab.
Da erst bemerkte sie den jungen Mann neben sich. Er wieder...
"Woran erinnert dich das Bild?", fragte er leise.
Helene zuckte mit den Schultern, aber der Mann schien es schon zu wissen.
Ihr wurde bewusst, dass sie nur das weiße Nachtkleid und die Strickjacke trug.
"Ist dir nicht kalt?"
Sie schüttelte den Kopf.
Der junge Mann kam auf sie zu und nahm ihre Hand.
Ihre Fingerspitzen waren eisig.
"Du frierst." Helene schüttelte wieder den Kopf und zog ihre Hand zurück.
Der junge Mann runzelte die Stirn, ungeachtet des schwarzen Haares das ihm in die Stirn fiel.
"Lass uns auf dein Zimmer gehen."
Der Mann wusste besser wo Helenes Zimmer lag, als sie selbst.
Es war ein hübsches Zimmer, ohne Frage.
Dennoch nutze sie es nur Nachts.
Helene setzte sich auf das schmale Bett und der junge Mann legte ihr eine Decke um die Schulter.
Er ließ die Tür offen, Helene bekam Angst wenn er sie schloss.
Sie brauchte immer einen Fluchtweg, nur dass man vor Gedanken nicht fliehen konnte.
"Mochtest du das Bild auf dem Gang?"
Helene zuckte mit den Schultern.
"Es war ganz okay."
Es war schrecklich. Es hat mich an etwas erinnert, woran ich jeden Tag denken muss ohne es zu wollen.
Sie war Neurotikerin, sie wusste unter welchen psychischen Krankheit sie litt.
"Wenn ich dich bitten würde heute Nacht hier zu bleiben, würdest du bleiben?"
Der junge Mann lächelte leicht und zog eine Augenbraue hoch. Auf seinen Wangen bildeten sich Grübchen.
Er zog seine Ärmel hoch und sehnige Arme kamen zum Vorschein.
"Ich habe darin nicht so gute Erfahrungen."
Auf seinem rechten Unterarm waren Kratzspuren, auf seinem linken ein Bissabdruck.
Helene wandte beschämt den Kopf ab. Sie hatte Panik bekommen.
Der Biss war inzwischen ein hässlicher Bluterguss.
Sie erinnerte sich an ein Gespräch im Psychiaterteam, das sie nicht hätte hören sollen.
"Sie hat Bindungsängste?"
"Ja. Sie sucht Schutz und Nähe nach allem was ihr passiert ist. Sie braucht Vertrauen und eine starke Schulter, aber sie hat gleichzeitig wieder Angst, dass sich jemand erneut an ihr vergreifen könnte wie ihr Onkel."
Helene wollte das Allan bei ihr blieb, denn die Nächte waren schwarz und gefährlich.
Aber er war ein Mann und sie hatte schlechte Erfahrung mit Männern.
Mörder und Vergewaltiger.
"Hey Helene!" Seine Stimme riss sie wieder aus den Gedanken.
Sie zuckte zusammen und sah ihn an.
Er seufzte leise.
"Ist okay, ich bleibe hier."
Helene lächelte schwach. Es tat ihr fast weh die Mundwinkel hoch zu ziehen.
Allan setzte sich neben sie und sah sie aufmerksam an.
Vorsichtig legte er eine Hand auf ihren Rücken.
Helenes Atem beschleunigte sich, aber sie hielt still.
"Hast du Angst?"
Sie nickte.
"Wovor?" Seine Hand strich über ihren Rücken.
Helene zuckte mit den Schultern.
"Hat Maximilian dir Angst gemacht?"
"Ja."
Wem hatte er keine Angst gemacht?
Nachdem sie alle zugesehen hatten wie Maxi Ari den Schädel zerschlagen hatte, hatte der rothaarige Mann seinen Respekt.
Sie erinnerte sich genauesten daran, wie Maxi aufgestanden war, die Haare zerzaust, das Hemd zerrissen und blutig, die Zähne gefletscht.
Helene würde den Blick in Maxis Augen nie wieder vergessen, genauso wenig wie den Tiger.
Allan strich ihr durch das stumpfe Haar.
"Du solltest zum Friseur."
Helene schüttelte stur den Kopf.
Allan seufzte.
"Dann lass mich wenigstens deine...Haare kämmen."
Helene blieb stumm sitzen.
Es tat höllisch weh, sie hatte viele Knoten, aber Allan versuchte vorsichtig zu sein.
"Allan?", fragte sie und verzog kurz das Gesicht vor Schmerz.
"Ja?"
"Kannst du mir ein Video von einem Tiger zeigen?"
Allan hielt kurz inne.
Dann kämmte er weiter.
"Nein."
Sofort zog Helene sich zurück und krabbelte ans Ende des Bettes.
Allan stöhnte auf.
"Helene! Hör auf dich wie ein Kleinkind zu benehmen!"
Sie zog sich nur die Decke über den Kopf und machte sich ganz klein.
Allan verschränkte die Arme.
"Das gehört nicht zu deiner Psyche, sondern zu deinem Charakter."
Helene regte sich nicht.
Allan seufzte, kam zu ihr und zog sanft die Decke weg.
Sie vermied es ihn anzusehen.
"Ich habe einen Menschen getötet."
Der junge Mann nickte.
"Ist mir durchaus bewusst."
Helene hob hochnäsig die Nase.
"Wer sagt, dass ich dich nicht auch töten könnte?"
Es waren gewagte Worte, doch Allan ging locker damit um.
"Niemand."
Helene hatte sich überschätzt.
Fast augenblicklich verschwanden alle ihre Emotionen und Gedanken.
Paul stöhnte auf, als das Messer sich in seinen Rücken bohrte. Die beiden stürzten auf die Couch und Paul riss seinen Ellenbogen zurück. Er traf Helene an der Nase und sie ließ erschrocken von ihm ab. Paul drehte sich mit einem Stöhnen zu ihr um, drückte sie ins Kissen. Helene schlug ihm in den Bauch und riss sein Messer aus dem Gürtel nur um es ihm gleich darauf wieder in den Bauch zu rammen.
Blut...heißes klebriges Blut nässte sie und seine Hände drückten schmerzhaft auf ihren Hals.
"Helene!"
Sie schrie und zuckte zusammen.
Sie lag in Allans Armen und ihre Nägel hatten sich in seine Hand gebohrt.
Sie zitterte leicht.
Allan nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah ihr in die Augen.
Helene zitterte immer noch heftig.
"Das ist keine Neurose mehr.
Für mich sieht es eher nach einem Trauma aus.", murmelte er.
Helene atmete heftig.
Allan seufzte und strich über ihr zotteliges Haar.
"Wir gehen morgen zu Doktor Recheis."
Helene ging den Rest des Tages nicht mehr aus dem Zimmer.
Sie wollte fliehen, doch war zu schwach und zu müde.
Gegen zehn Uhr kam Allan. Er legte sich zu ihr und strich ihr solange durch das Haar bis sie schlief.
Helene schlief nicht gut, das kam selten vor.
Doch sie schlief und das zählte.

Am nächsten Morgen wanderte sie wieder.
Allan fand sie erst gegen Mittag und war ziemlich wütend.
"Ich habe dir doch gesagt, dass wir zur Frau Doktor Recheis gehen!"
Er packte sie am Handgelenk und schleifte sie mit sich.
Trotzdem mussten sie im Wartezimmer warten, obwohl kein anderer da war.
Allan hielt sie immer noch fest.
"Beziehungen mit Patienten sind verboten, dass weist du.", sagte Helene leise.
Allan sah überrascht auf.
"Bitte?"
"Ich hab dich mit Patricia gesehen."
Allan erstarrte einen Moment, dann lachte er.
Helene wich verwirrt zurück.
"Was hast du denn gesehen?", fragte er belustigt.
Die junge Frau sah sich sofort nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Allan erkannte das jedoch und hielt sie fest.
"Patricia ist meine Cousine. In einer Familie sind Umarmungen und Wangenküsse doch erlaubt?"
Helene starrte verzweifelt zu der geschlossenen Tür.
Allan legte einen Arm um ihre Schulter.
"Aber danke für die Erinnerung. Ich hätte es beinahe vergessen."
Er zwinkerte.
Helene sprang auf, kaum das die Türe aufging.
Fluchtartig drängte Helene sich an Doktor Reicheis vorbei in das Behandlungszimmer.
Die Psychiaterin sah Allan verwirrt entgegen, der auf sie zugeschlendert kam.
Helene hatte sich ans Fenster verzogen und Allan blieb ihr zuliebe auf der anderen Seite des Raumes.
Doktor Reicheis setzte sich.
"Helene, komm doch zu mir."
Die junge Frau schüttelte aufgebracht den Kopf.
Sie wünschte sich Ari herbei, der zwischen ihr und den beiden anderen stand.
Der kräftige, angstlose Ari.
Reicheis lächelte nur und nickte.
"Gut. Möchtest du mir von gestern erzählen?"
Wieder schüttelte Helene den Kopf und nun musste Allan einspringen und berichten.
Reicheis nickte.
"Das klingt für mich tatsächlich mehr nach einem Flashback, als nach einem Zwangsgedanken."
Helene atmete flach.
"Ich will gehen!", sagte sie bestimmt.
Doktor Reicheis seufzte.
Sie beugte sich zu Allan.
"So bringt mir das nichts. Ich gebe dir ein paar Termine, bring sie an den Tagen zu mir."
Sie schrieb etwas auf und Helene stürzte an Allan vorbei aus dem Raum.
In ihrem Zimmer angekommen zerrte sie ihr Nachthemd über den Kopf.
Allan errötete und drehte rasch den Kopf weg.
Helene zog einen schwarzen Rollkragenpullover über und eine schwarze Hose, dann zog sie ihre Schuhe an.
"Ich will einen Spaziergang machen.", forderte sie und Allan drehte sich wieder um.
"Okay.", sagte er etwas überrumpelt.
Helene war zweimal draußen getötet worden, dennoch fand sie das Haus beengender als den Wald und die Wiese.
Allan musste sie auf allen Spaziergängen begleiten.
Draußen wehte ihr ein kühler Wind durch die Haare.
Helene schritt stur auf den Wald zu und Allan folgte ihr gezwungenermaßen.
Nach einer Weile ließ Helene sich auf einem Baumstumpf nieder.
Allan blieb neben ihr stehen.
Eine Weile betrachtete sie den Wald vor sich, dann begann sie Allan von ihrem ersten Tod zu erzählen.
Er kannte ihn natürlich, doch ihre Sicht war anders als die der Aufnahmen.
"Ich weiß das Samuel es gar nicht wollte. Mich töten. Er hat es Alex gesagt."
Sie schluckte.
"Es tat schrecklich weh."
Allan nickte leicht.
"Du hast geschrien. Und geweint."
Sie erhob sich. "Weil ich erstochen wurde Allan. Samuel hatte einen angenehmeren Tod."
Allan öffnete den Mund um etwas zu erwidern, aber sie schüttelte den Kopf.
"Felix war ein...ein guter Mörder. Er hat es schnell getan. Ein Stich hat gereicht. Aber um selber zu sterben hat es mehrere gebraucht."
Allan griff nach ihrer Hand.
"Helene hör auf."
Sie schüttelte hart den Kopf.
"Ich kann nie wieder aufhören. Ich hatte alles, alles was ich brauchte. Und dann wurde mir alles weggenommen. Das werde ich nicht vergessen. Ich will es nicht vergessen."
Während sie die Worte gesprochen hatte, hatte sie gar nicht bemerkt wie nah sie Allan gekommen war.
Ihre Lippen waren nur Millimeter von einander entfernt. Sie konnte seinen Atem spüren und sah ihm in die Augen.
Braune Augen.
Aber nicht Aris Augen. Der einzige Mensch, der ihr - ohne sie zu kennen - Schutz versprochen hatte.
"Vergeben kann ich Allan. Aber nicht vergessen."
Dann drehte sie sich um und ließ ihn stehen, während sie sich auf den Weg zurück zur Psychiatrie machte.
Flucht. Ständiges fliehen.
Dabei wollte sie es nicht vergessen. Es zerriss sie fast.
So hatte sie nicht verdient zu enden. Verängstigt, wie ein Kitz ohne Rehmutter, ständig von Wölfen umgeben.
Sie würde alles geben, um den Stand ihres alten Lebens wieder zu erreichen, nur ohne ihren Onkel.
Vielleicht wurde es Zeit, alles zu geben um das zurückzubekommen, was Valos ihr genommen hatte.

Wish we could turn back time
To the good old days
When our momma sang us to sleep
But now we're stressed out
(Stressed Out)

Der Geruch von Regen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt