Prolog

339 42 22
                                    

2006

Lelaenia verglich, wie jeden Morgen auch, die Steine auf dem Gehweg miteinander und runzelte dabei konzentriert die Stirn. Es faszinierte sie, wie sie ein individuelles Merkmal an jedem Stein erkennen konnte und somit alle etwas Besonderes waren. Dennoch mochte sie insgeheim die Steine am liebsten, die sich komplett von den anderen unterschieden. Die eine ganz andere Farbe oder Form hatten und somit hervorstachen, was nicht sehr einfach war bei den ganzen Farben, die auf der Wiese zu erkennen waren.

Dabei fielen immer wieder einzelne schwarze Strähnen vor ihren Augen, was sie aber nie zu stören schien - so vertieft war sie in ihren Gedanken. Auch wenn sie erst junge sieben Jahre alt war, hatte sie schon desöfteren mitbekommen, wie ihre Eltern besorgt darüber sprachen, dass sich diese Eigenschaft negativ auf ihr Schulleben auswirken könnte, dass sie zu beschäftigt mit ihrer eigenen Fantasie zu sein schien statt sich mit anderen Kindern in ihrem Alter anzufreunden.

Und tatsächlich fingen ihre Klassenkameraden an, sie zu meiden, nachdem sie bemerkt hatten, dass es wohl keinen Spaß machen würde, mit Lelaenia zu spielen. Aber Lelaenia machte es nicht viel aus, solange sie malen durfte. Und nichts ließ sie davon abhalten. Auch als Nathan, ihr Sitznachbar, eines Sommertages einen Blick auf eine äußerst interessante Zeichnung warf und ihr sagte, dass ihre Zeichnung doch völliger Quatsch war, denn sie zeichnete immer Dinge, die sie sah, hörte sie nicht auf und zuckte bloß die Schultern. Denn sie wusste, was sie sah.

Der Gehweg auf der Wiese endete und die Zäune von der Farm des alten Farmer Jacks waren nun zu sehen. Niemand konnte Jack Manners besonders leiden, weil Jack eben genauso niemanden leiden konnte. Und Lelaenia fürchtete sich auch etwas vor seinen buschigen, dunklen Augenbrauen und der grimmigen Miene, aber sie konnte es nicht verhindern, dass sie jedes Mal aufs Neue aufgeregt und gespannt war, wenn sie die Farm mit den ganzen Tieren und dem Wald dahinter sah. Sie bat ihre Eltern sogar, sie jeden Tag eine halbe Stunde früher zu wecken, um die Schönheit dieses Spektakels zu bewundern und selbstverständlich zu zeichnen.

Nachdem sie jedoch bemerkt hatte, dass sie die Einzige war, die dieses ,,Spektakel" sah und man sie mit ihrem jungen Alter nicht ernst nahm, hörte sie auf, es den wenig Vertrauten zu erzählen, die sie hatte. Und es war in Ordnung, denn sie konnte es sehen und in ihren Zeichnungen festhalten und das war alles, was wirklich zählte.

Also setzte sie sich, wie jeden Morgen auch, vor dem Zaun auf die langen, weichen Grashalme, packte ihren Zeichenblock und ihre ganzen Buntstifte aus und betrachtete die Pferde auf der anderen Seite des Zauns. Sie alle waren weiß oder braun, doch ein Pferd hatte Lelaenia besonders lieb gewonnen, und zwar das einzig schwarze. Es stand immer etwas weiter abseits, ganz nah am Wald, welcher, nebenbei bemerkt, etwas Magisches an sich hatte. Lelaenia war der Meinung, dass die Blätter dieser Bäume leuchteten und die Baumstämme viel dicker waren als gewöhnlich.

Sie nahm einen langen Atemzug und presste die Lippen aufeinander, während sie das schwarze Pferd grübelnd anstarrte. Meistens schaffte sie, es zu sehen, doch es gab auch einige Male, da passierte zu ihrem Bedauern nichts und das Pferd blieb ein gewöhnliches Pferd.

Als die Hand, mit der sie ihren Stift hielt, anfing zu schmerzen, weil sie ihn so krampfhaft umschloss, gab sie die Hoffnung auf, heute etwas Übernatürliches zu sehen und seufzte enttäuscht auf. Doch in genau diesem Moment drehte das schwarze Pferd den Kopf zu ihr und tatsächlich schien die Welt zu flackern, als Lelaenia ganz schwach ein durchsichtiges Horn auf seiner Stirn erkennen konnte und die Ohren viel länger und spitzer wurden. Breit grinsend und mit schnell klopfendem Herzen begann sie das außergewöhnliche Geschehnis ein weiteres Mal zu zeichnen.

Sie versuchte sich zu beeilen, denn schließlich wartete die Schule. Außerdem befürchtete sie, dass das Horn und die Ohren verschwinden würden, wenn sie noch einmal hinsehen würde. Doch zu ihrem Erstaunen blieben sie und es erschienen sogar prachtvolle, breite Flügel auf seinem Rücken, die ihn überirdisch schön und majestätisch wirken ließen. Und ganz egal, wie oft Lelaenia auch wegschaute, das Bild änderte sich nicht. Erstaunlich fand sie nur, dass die ganzen anderen Pferde sich nicht veränderten.

Schweren Herzens packte sie dann letztendlich alles zusammen und stand auf. Sie würde mächtig Ärger bekommen, wenn sie schon wieder zu spät wäre. Eins nahm sie sich aber fest vor: Sie würde ihre Eltern überreden, mit ihr dem alten Jack einen Besuch zu leisten, um ihn zu fragen, ob sie sich mal die Pferde genauer ansehen darf.

-----

Mrs. Kilson sah erst zu ihrer bettelnden Tochter, die, wie sie bemerkt hatte, viel seltener um etwas bettelte als die meisten anderen Kinder. Nur gelegentlich bat sie um neue Buntstifte oder darum, länger draußen zu bleiben. Allerdings konnte sie sich nicht ausmalen, was ihre Tochter denn alleine immer draußen tat. Dann sah sie zu ihrem Mann, der sie genau so verzweifelt ansah wie sie ihn.

Der alte Jack schien kein großer Freund von Kindern oder allgemein Menschen zu sein und es gingen Gerüchte herum, schreckliche Gerüchte, die allen ein mulmiges Gefühl bereitete.

Seufzend kniete Mr. Kilson sich nieder, um in gleicher Augenhöhe mit Lelaenia zu sein. ,,Schatz, wir können uns doch auch sicher irgendwo anderes Pferde ansehen. Wenn du möchtest, melden wir dich sogar beim Reitunterricht an." Enttäuscht schüttelte sie daraufhin ihren Kopf, wobei ihre frisch geflochtenen Zöpfe umher flogen. ,,Ich will nicht reiten, Daddy, und auch keine anderen Pferde sehen. Ich will dieses Pferd sehen."

Nun kniete Mrs. Kilson sich ebenfalls nieder, sah Lelaenia in ihre dunklen, grünen Augen und lächelte sie warm an. ,,Nun gut, wir können ja mal nachfragen, ob wir in die Farm dürfen." Ein Versuch war es schließlich wert, denn sie würden alles für ihre Tochter tun.

-----

Jack Manners hörte die Stimmen der Eltern und des Kindes noch bevor sie die Haustür erreichten. Deshalb erschraken sich die drei auch etwas, als die Tür geöffnet wurde und sie nicht einmal klingeln mussten. Genervt sah Jack die Kilsons an. ,,Milch gibt es morgen erst wieder." Gerade als Mr. Kilson zum Erklären ansetzen wollte, begann Lelaenia selbst zu sprechen, was die beiden Elternteile durchaus schockte.

,,Darf ich Ihre Pferde sehen?", fragte sie etwas aufgeregt, bemüht ruhig zu bleiben. Dabei versuchte sie, ihm bloß nicht in die Augen zu schauen und starrte stattdessen also auf ihre Zeichnungen, die sie fest in ihre Hände hielt. Jack hatte diese Frage nicht erwartet und war somit erst sprachlos. Und als er dann einen Blick auf ihre Zeichnungen und ihre Augen warf, war er vollkommen überfordert. Konnte es tatsächlich sein, dass sie diejenige war, die-

,,Ich bitte Sie, Mr. Manners. Sie redet schon seit Tagen darüber. Ich verspreche Ihnen auch, dass wir schnell wieder weg sein werden.", versuchte es Mr. Kilson erneut, während Jack Manners jedoch mit den Gedanken ganz woanders war.
Sie war es tatsächlich. Er konnte die schwarzen Punkte neben ihrer Pupille im dunklen Grün ihrer Iris erkennen. Doch wieso waren ihre Haare schwarz?

Jack seufzte, als er bemerkte, dass die Kilsons auf eine Antwort warteten. Wie gerne er sie auch hineinlassen wollte, konnte er es nicht tun. Ihre Eltern waren Menschen und Lelaenia zu jung, um jetzt von der anderen Welt zu erfahren. ,,Ich kann sie leider nicht hineinlassen. Die Pferde sind ziemlich ... wild und sie noch sehr jung. Aber komm mal kurz mit, Kleines, ich habe sicher etwas zum Naschen für dich."

Mr. und Mrs. Kilson waren erstaunt, denn sie hatten eine eigentlich grobere Antwort erwartet. Lelaenia nickte bedrückt und folgte ihm in das Innere des Hauses während ihre Eltern am Türrahmen warteten.

In der Küche kniete sich Jack zu ihr und lächelte sie mitleidig an. ,,Es tut mir leid, dass ich dich noch nicht zu den Pferden lassen darf. Aber eines Tages, wenn du mal ein großes Mädchen bist, wirst du wieder kommen können. Versprich mir bloß, dass du es nicht vergessen wirst." ,,Was vergessen?", fragte sie neugierig.
,,Die Dinge, die du gesehen hast. Vergiss niemals, dass das etwas ganz Besonderes ist."

~

Ich hoffe euch gefällt der Anfang :)
Ich bin sehr gespannt darauf, die Story weiterzuschreiben. An meine alten Leser: Willkommen zurück :D

Das wundervolle Cover ist übrigens von der lieben Story-Ecke
Ihr solltet euch echt mal ihre Premades ansehen!

Twin StarsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt