3. Kapitel

3.5K 116 9
                                    

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riss mich zurück in die Gegenwart. Ich setzte mich ruckartig auf. Emily trat zögerlich ein. Man konnte die Emotionen praktisch in ihrem Gesicht ablesen. Erstaunen, Angst, Besorgnis.
„Hallo?", fragte sie und sah um die Ecke. Ihr Blick fiel auf mich. „Lia! Alles okay? Was ist passiert? Du warst Ewigkeiten weg!"
Ich stand auf, war noch etwas wackelig auf den Beinen. „Em, kannst du bitte runtergehen und die Party beenden?"
„Ja klar, aber was ist hier los? Wieso sieht dein Zimmer so ..." Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. „ ... aus?"
„Das kann ich dir nicht erklären. Bitte schick sie weg!", bat ich sie erneut.
Rückwärts verließ Emily das Zimmer. Ich hatte das Gefühl, mich meilenweit weg von ihr zu befinden. Seit dieser Verwandlung war meine Welt komplett auf den Kopf gestellt. Was sollte ich jetzt machen? Mich normal verhalten? So tun, als sei nichts passiert? Aber wenn ich wirklich ein ... Werwolf war, würde es dann nicht nochmal passieren? Erschöpft setzte ich mich auf die Bettkante. Vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet. Werwölfe existierten schließlich nicht! Wenn jemand davon erfahren würde ...  Ich wäre ein Freak, ein Monster. Ich schluckte. Tränen brannten mir in den Augen, doch ich wischte sie achtlos fort.
Der Mond war nun verschwunden und der frühe Morgen graute. Es war, als wäre nie etwas geschehen. Unten hörte man auf einmal keine Musik mehr, Proteste wurden laut und schließlich waren Schritte auf dem Asphalt und das Röhren der Autos zu hören, die sich langsam entfernten. Jetzt, wo ich nicht mehr länger hundert Leute unter mir hatte, fühlte ich mich besser. Ob Emily noch da war? Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal denken würde, aber insgeheim hoffte ich, dass sie schon gegangen war. Ich wollte sie nicht weiter anlügen, ich wollte allein sein.

„Lia?", drang eine Stimme ein paar Minuten später durch die Tür.
Ich setzte mich auf. Es war Mom. Sie war blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen. „Mom." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Emily hat mich geschickt. Sie meinte, mit dir stimmt etwas nicht. Ich hab sie nachhause gebeten." Erst jetzt schien ihr das ganze Chaos aufzufallen. Sie nickte nur. Dann murmelte sie so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte: „Es ist also passiert."
Jetzt hatte sie meine volle Aufmerksamkeit. „Was ist passiert?", hakte ich nach. Obwohl ich mir ja eigentlich denken konnte, dass sie meine Verwandlung meinte. Nur konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass sie davon wusste.
Meine Mutter seufzte und kam zu mir auf das Bett. „Du bist jetzt ein Werwolf." Sie sagte es, als hätte sie festgestellt, dass ich ein Stück gewachsen war.
„Du wusstest davon?", fragte ich ungläubig.
„Natürlich. Dein Vater und ich sind schließlich selbst welche." Ich starrte sie entgeistert an. Meinte sie das Ernst? Dad und sie waren Werwölfe? Wollte sie mir das gerade mitteilen? Wäre das Ganze nicht so ernst, hätte ich laut aufgelacht. Das klang alles so verrückt, so ... surreal.
Ich schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, dass kann nicht sein. Das hätte ich bemerken müssen."
„Wir haben es gut versteckt." Sie lächelte matt.
Plötzlich machte etwas Klick in meinem Kopf. „Also ist Dad auch gar nicht bei einem Autounfall gestorben?"
Meine Mutter wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Nein, er wurde bei einem Angriff von einem anderen Rudel tödlich verletzt."
Mein ganzes Leben war eine Lüge.
„Wieso habt ihr es mir die ganze Zeit verschwiegen? Wusstet ihr schon immer, dass ich so werden könnte?" Ich hatte tausende Fragen in meinem Kopf, doch Mom hatte es plötzlich eilig. „Lia, pack ein paar Klamotten und das Nötigste ein. Wir müssen verschwinden."
Sie war drauf und dran mein Zimmer zu verlassen, aber ich hielt sie am Ärmel fest. „Aber Mom, vielleicht bin gar kein Werwolf! Vielleicht war das alles ein Irrtum."
Mom warf mir ein beruhigendes, aber auch spöttisches Lächeln zu. „Schatz, das war ganz sicher kein Irrtum."
„Aber du hast es ja gar nicht gesehen. Wie kannst du dir dann so sicher sein?", versuchte ich es erneut.
„Gute Frage. Es war allerdings bei mir genauso. Ich hatte kaum Erinnerungen an meine erste Verwandlung. Es kommt einem vor wie ein Traum. Aber als Kind zweier Werwölfe, war schon immer klar, dass du auch einer von uns werden würdest." Sanft schob sie meine Hand von ihrem Arm. „Pack jetzt deine Sachen! Wir müssen verreisen."
„Aber wohin?" Die Antwort bekam ich nicht mehr. Hastig stopfte ich also ein paar T-Shirts, Hosen und Pullover in meinen großen Rucksack. Zahnbürste, Handy und ein Buch folgten.
Mom steckte den Kopf zur Tür rein. „Bist du fertig?" Sie selbst hatte keinerlei Gepäck. Ich nickte. „Gut. Draußen steht unser Taxi."

Wenig später befand ich mich auf der Rückbank des Taxis, eingepfercht zwischen Mom und dem riesigen Rucksack. Der Himmel war rotorange von der aufgehenden Sonne gefärbt. Das Licht spiegelte sich in den gläsernen Fassaden der Hochhäuser von San Francisco. Selbst so früh am Morgen waren die Straßen nicht leer und wir standen zwei Mal im Stau. Mom klapperte unentwegt ungeduldig mit ihren Fingernägeln auf der Armstütze. Entnervt sah ich zu ihr herüber, doch sie bemerkte meinen Blick gar nicht, so konzentriert beobachtete sie die Straße.
„Halten Sie bitte beim nächsten Block."
Das Taxi hielt in der Nähe einer U-Bahnstation. Sobald wir ausgestiegen waren, fragte ich: „Mom, was machen wir hier?"
„Das wirst du gleich sehen. Schade, dass wir nicht früher hier sein konnten. Das wäre besser gewesen."
Sie lief die Treppen hinunter und ich folgte ihr. Die U-Bahnstation war gut besucht. Menschen mit Koffern und Taschen beladen oder mit Kopfhörern in den Ohren warteten.
Mom schaute auf die Anzeige. „Gut, in zwei Minuten kommt die Bahn."
„Und wohin fahren wir?", fragte ich. Mir fiel kein Ort in San Francisco ein, wo Mom mit mir hinfahren wollen könnte. Außer vielleicht ihre beste Freundin Angela. Aber wie sollte die uns weiterhelfen? Außerdem hatte Mom ihr bestimmt nichts diesbezüglich anvertraut, wenn sie mir schon nichts gesagt hatte.
Die Bahn kam und die Leute stiegen ein. Ich machte Anstalten auch einzusteigen, doch Mom hielt mich zurück. „Wir fahren nirgendwo hin."
„Aber was machen wir dann hier?" Ich verstand nur noch Bahnhof.
„Das wirst du gleich sehen."

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt