21. Kapitel

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Als ich am nächsten Tag aufwachte, stöhnte ich leise. Der gestrige Abend war absolut grausam gewesen. Ich hatte mich beim Abendbrot extra weit von Luke weggesetzt, aber er hatte mir die ganze Zeit lang Blicke zugeworfen. Und der Versuch ihn zu ignorieren, hat auch nicht wirklich geklappt. Danach hatte ich eigentlich direkt schlafen gehen wollen, doch die anderen hielten es für eine tolle Idee noch im Computerraum abzuhängen, also musste ich mit und weiter Zeit mit ihm verbringen. Ich wühlte mich aus dem Bett und zog einen schlabbrigen Kapuzenpullover und eine Leggins an. Als ich meine Zimmertür öffnete, sah ich Sam, die schon am Lernen war.
„Morgen!", rief sie gutgelaunt. „Du hast ja ganz schön lang geschlafen. Ich hab schon gefrühstückt. Aber Rosa und Mary-Ann glaube ich noch nicht. Ich muss heute den ganzen Tag Chemie lernen. Am Montag ist doch dieser dämliche Test!" Sie verdrehte die Augen.
„Okay ...", murmelte ich. Zu viele Informationen so früh am Morgen! „Ich geh dann mal in die Mensa." Als ich schon an der Tür war, drehte ich mich nochmal um. „Ach, übrigens, ich hab heute eine Verabredung. Um neun in der Bibliothek."
Sam sah auf. „Um neun?! Nicht gerade eine normale Zeit sich zu treffen ... Ist dein Date ein Vampir, oder wie?"
Ich schluckte. Sie wusste ja gar nicht wie Recht sie damit hatte ... „Äh, was?", fragte ich. „Ich geh dann mal!" Bevor sie noch etwas sagen konnte, verließ ich fluchtartig das Zimmer.

In der Mensa setzte ich mich zu Rosa, die mutterseelenallein an einem der Tische saß.
„Hi!", begrüßte ich sie und stellte mein vollbeladenes Tablett auf dem Tisch ab.
„Hallo!", antwortete Rosa und rührte in ihrem Kakao.
„Alles okay?", fragte ich vorsichtig. Sie sah so betrübt aus, wie sie da vor sich hin starrte. Ihre Augen waren beinahe glasig.
„Was?! Äh, ja ... klar!" Sie unterbrach das Rühren. „Ich bin nur in Gedanken."
„An was denkst du denn?" Das interessierte mich jetzt wirklich brennend, so wie sie vor sich hinstarrte. „Ähm, wenn ich fragen darf.", setzte ich vorsichtshalber hinterher.
„Du hast doch von Dragozius gehört. Er hat letztes Jahr einen Vampir aus Overtum entführt. Ich hab solche Angst, dass ich dieses Jahr an der Reihe bin! Ich weiß, er nimmt meist nur Vampire mit, aber wer weiß das schon?" Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.
Ich legte ihr einen Arm um die Schulter. „Ach, Rosa, so weit wird es nicht kommen! Sie haben doch gesagt wir sind in Sicherheit."
Sie schnaubte. „In Sicherheit! Toller Witz! Jedes Jahr wird ein Schüler entführt - Hier glaubt niemand mehr an Sicherheit."
Ich schluckte und trank einen Schluck O-Saft. Auf mein Brot hatte ich keinen Appetit mehr. So hatte ich das Ganze noch gar nicht gesehen. Ich hatte diese Dragozius-Sache immer erfolgreich verdrängt, doch nun wurde mir zum ersten Mal die Gefahr dahinter bewusst.

„Was soll ich bloß anziehen?!", stöhnte ich und ließ meinen Kopf gegen die Schranktür knallen. „Aua."
Sam kam um die Ecke. „Hey, soll ich dir helfen?" Sie lehnte sich gegen den Türrahmen.
„Bitte! Ich hatte noch nie ein Date und hab keine Ahnung was ich dazu anziehen soll ...", murmelte ich und musterte meinen Kleiderschrankinhalt. Nichts schien passend zu sein.
„Das haben wir gleich." Sam drängte mich zur Seite und inspizierte meine Klamotten. „Also, es sollte casual aber auch chic sein, aber nicht zu offensichtlich gestylt. Eher so, als hättest du dir einfach etwas übergeworfen und es sieht zufällig umwerfend aus." Sie angelte einen hellgrauen dünnen Pullover aus einen der Fächer. „Nicht so chic aber auch nicht schlabberig."
Ich lachte. „Oh man! So habe ich noch nie über Kleidungsstücke nachgedacht!"
„Deshalb bin ich ja da! Ähm, wie wär's mit dieser schwarzen Jeans? Die gehen immer. Und dazu die schwarzen Sneaker. Perfekt!" Sam überreichte mir ihr Outfit. „Zieh es mal an!"
Wenig später trug ich die Sachen und machte eine Art Modenschau vor ihr.
„Stylistin Sam kriegt alles hin! Selbst Modeopfer haben ein paar gute Teile im Schrank! Es kommt auf das Kombinieren an. Mit ein paar passenden Accessoires kann man ganz easy ein Outfit kreieren!", säuselte ich kichernd.
Sam lachte ebenfalls. Sie stockte plötzlich. „Wie spät ist es?!"
Ich erstarrte und rannte zu meinem Wecker. „Fünf vor neun! Ich muss los! Oh Gott, ich komme zu spät ..." Hastig trug ich noch etwas Lipgloss auf, fuhr mir durch die Haare und tuschte meine Wimpern. „Dankeschön, Sam! Du hast was gut bei mir!" Ich umarmte sie und rannte aus der Tür.

Kurz vor der Bibliothek verlangsamte ich meine Schritte. Da um neun eigentlich schon Bettruhe war, waren die Flure wie ausgestorben. Glücklicherweise war ich keinem Lehrer über den Weg gelaufen, sonst hätte ich wohl eine Verwarnung bekommen. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter. In der Bibliothek brannten ein paar der schwachen Deckenlampen, die gelbliches Licht verströmten. Raphael saß an einen Tisch gelehnt in der Mitte des Raumes. Mein Herz fing an heftig zu klopfen, als ich mich ihm näherte. Er trug einen beigen Pullover und eine Jeans. Seine Haare waren wie immer verwuschelt und seine haselnussbraunen Augen strahlten.
„Hi!", sagte ich zögernd und blieb wenige Zentimeter vor ihm stehen.
„Hey!" Seine Stimme klang rau. „Schön, dass du da bist."
„Ich hab's doch versprochen!", grinste ich. „Und Versprechen bricht man nicht." Seine Augen ... Ich verlor mich förmlich in ihnen. „Weißt du eigentlich, dass ich gerade wegen dir mein Leben aufs Spiel setze?", murmelte ich.
„So wichtig bin ich dir?" Er grinste. Der Gedanke schien ihm zu gefallen.
„Ich bin dir aber scheinbar auch wichtig, weil du deins auch aufs Spiel setzt.", antwortete ich.
„Tue ich das?"
Ich stutze. „Keine Ahnung, aber ich stehe so kurz vor einer Verwarnung."
„Dann sollten wir uns wohl besser nicht erwischen lassen."
Mir gefiel dieses Hin und Her, aber trotzdem setzte ich dem ein Ende. „Waren nicht Bücher der Grund unseres Treffens?"
„Wer sagt das?" Er machte ein unschuldiges Gesicht.
„Na, du!", rief ich und knuffte Raphael in die Seite. Ich zog in hinter eines der Regale. „Was haben wir denn hier ..." Mit meinem Finger fuhr ich die Buchrücken entlang und murmelte die Titel. „Was hast du denn so in letzter Zeit gelesen? Vielleicht können wir darüber sprechen. Oder das hier! Interessant. Meine Freundin Emily meinte, das hier sei das beste Buch, das sie jemals gelesen hat. Ich weiß nicht, ob ..."
Plötzlich spürte ich zwei Hände an meiner Hüfte, die mich zu ihm heranzogen.
„Äh, was ...?", stammelte ich, doch auf einmal befand sich mein Gesicht ganz nah an seinem. Ich konnte seinem Atem auf meiner Haut spüren.
„Jetzt bist du endlich mal still.", sagte er leise lachend und zog mich noch ein bisschen näher an ihn. Ich atmete seinen Duft ein - Zitrone und Rasierwasser. „Du kannst ganz schön viel reden."
„Und du kannst dich ganz schön wie ein Idiot aufführen!"
„Ich? Ein Idiot?"
„Allerdings ...", antwortete ich grinsend.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt