Am nächsten Tag war es beim Frühstück ungewöhnlich still. Wir alle hatten den gestrigen Abend noch gut in Erinnerung. Deshalb redeten wir fast nicht und wenn, dann nur das Nötigste.
Um halb neun saßen wir im Englischraum. Mrs Andrews musterte mich prüfend. Sie schien sich wohl innerlich zu freuen, dass ihre Warnung nichts bei mir gebracht hatte und ich, wie sie es sich schon gedacht hatte, erneut aufgefallen war. Trotz, dass sie erst um die vierzig Jahre alt war, hatte sie schon tiefe Stirnfalten zwischen ihren Augenbrauen.
„Also, fangen wir an mit Englisch." Sie nannte uns eine Buchseite, die wir aufschlagen sollten. „Lest bitte den Text still und bearbeitet dann die Aufgaben drei und fünf dazu."
Es herrschte Stille.
Ich wollte mich gerade in den Text vertiefen, da schob mir Luke, der neben mir saß, einen Zettel zu. Ich zog ihn zu mir, öffnete ihn und las:Hey!
Was ist das jetzt eigentlich zwischen uns?Ich seufzte leise. Man, wieso musste er mich das denn ausgerechnet jetzt fragen? Hier, während des Unterrichts, hatte ich keine Chance zu fliehen. Ich tat so, als würde ich so tun, als ob ich schrieb, damit Mrs Andrews nichts merkte. Dabei überlegte ich insgeheim. Was sollte ich antworten? Ich lief die ganze Zeit immerzu davor weg und tat, als würde es mich nichts angehen.
Jetzt hatte ich den Salat.
Schließlich nahm ich den Zettel und schrieb:Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich mag dich, aber nur als Freunde, schätze ich.
Ich schluckte. Das war hart. Langsam schob ich ihm den Zettel hin. Hoffentlich würde er nicht ausrasten oder sich verwandeln, vor lauter Wut.
Unauffällig beobachtete ich ihn von der Seite, doch Luke las ihn und bearbeitete dann die Aufgaben einfach weiter. Es war fast schon schräg, wie er nichts daraufhin tat. Ich nahm den Zettel erneut und notierte:Alles okay?
Auch wenn das jetzt blöd klang, ich musste wissen, ob es ihm gut ging. Auch auf die Gefahr hin, dass er einfach log. Luke nickte anstelle von einer Antwort. Ich tat, als nehme ich das zur Kenntnis, doch in Wahrheit zerriss es mir das Herz. Es gab doch nichts was mehr weh tat, als die Gefühle anderer Personen nicht erwidern zu können und sie daraufhin traurig zu sehen. Ich starrte in mein Buch.
Er tat mir leid, so unendlich leid.Nach Spanisch hatten wir in den letzten beiden Stunden Werwolftraining. Als ich mit den anderen den Gang zum Trainingsraum runterging, hatte ich Angst, dass Chris mich auf die gestrigen Ereignisse ansprechen würde. Ich wollte auf keinen Fall, dass er vor den anderen, insbesondere vor Luke und Jeff meinen Streit mit Raphael anspricht.
Zögerlich betrat ich den Raum. Ein paar waren schon da und saßen in ihren Anzügen auf dem Boden. Ich ging mit Sam, Rosa und Mary-Ann in die Mädchenumkleide.
„Morgen ist dein Kontrolltraining, oder?" Sam nahm eine Wasserflasche aus ihrem Spind und trank einen großen Schluck.
„Ja.", grummelte ich. Ich schlüpfte in meinen schwarzen Anzug. Man fühlte sich dadrin immer wie ein Ninja oder so was.
„Und freust du dich schon drauf?" Sie grinste.
„Ja, total." Ich warf ihr einen strafenden Blick zu. „Aber es ist meine Schuld, also habe ich es auch verdient."
„Stimmt." Rosa sah mich mitleidig an.
„Trotzdem ist es blöd, mit Chris allein zu sein. Und das den ganzen Vormittag lang!", sagte Mary-Ann.
Ich nickte. „Jap."
„Na ja, sieh es positiv, dann hast du es hinter dir und kannst von neuem anfangen!" Sam klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
Ich lächelte matt.„Okay, kommt mal bitte in einen Kreis zusammen!", rief Chris wenig später. „Wir machen heute ein paar Boxübungen. Stellt euch gleich bitte in Reihen an den Boxsäcken an. Jeder hat fünf Schläge, dann ist der nächste dran und ihr stellt euch wieder hinten an. Ich werde vorne stehen und euch ein paar Tipps geben. Alles klar? Gut, dann legen wir los." Er sprang auf und joggte locker zu den Boxsäcken.
Wir stellten uns an. Hinter mir stand Rosa und vor mir Luke. Als er an der Reihe war, schlug er fünfmal so heftig, dass der Sack bedenklich zu schwingen anfing und Chris warnte: „Luke! Ruhig, so schlägst du dir nur deine Hände blutig. Mach einfach ein paar lockere Schläge."
Irgendetwas unverständliches murmelnd stellte er sich wieder an.
Ich trat nach vorne und versetzte dem Sack fünf Hiebe.
„Ja! Gut!", lobte mich Chris. Wenn er sauer auf mein Verhalten war, ließ er es sich auf jeden Fall nicht anmerken. Ich lächelte und stellte mich wieder hinten an.Um kurz vor siebzehn Uhr ging ich zum ersten Mal zum Bücherclub. In der Bibliothek hatten sich bereits ein paar Schüler versammelt. Mrs Penn legte einen Bücherstapel auf den provisorischen Tisch in der Mitte, der aus den zusammengeschobenen Einzeltischen der Bibliothek bestand.
„Oh, hallo Lia! Schön, dass du da bist!"
„Hi!", antwortete ich und setzte mich auf einen der freien Stühle.
Außer mir saßen ein Junge mit ziemlich blasser Haut, wahrscheinlich ein Vampir, ein Werwolf, und zwei Hexen am Tisch, die ich alle nicht kannte.
„Stellt euch doch schon mal kurz vor. Es sind bestimmt gleich alle da." Sie sah aufmunternd in die Runde.
„Ich bin Lia." Irgendwie hielt ich es für angebracht, mich als Neue zuerst vorzustellen. Die anderen nickten.
„Ich bin Jason!", stellte sich der Werwolf vor. Momentmal, war das nicht der, über den die Zicken Nadine und Cherry im Bad so abgelästert hatten? Wegen was noch mal? Seiner Haare? Stimmt, die sahen wirklich etwas eigenartig aus...
„Clarissa." Die eine Hexe lächelte mich an. Sie hatte orangenes Haar und trug eine schwarze Bluse auf der kleine Hexenhüte aufgedruckt waren. Schräg...
„Ich heiße Maya." Die andere Hexe sah mich ebenfalls nett an.
„Ich bin Emmett.", sagte der gruselige, kalkweiße Vampir. Er hatte einen ausländischen Akzent. Ich konnte ihn nicht richtig einordnen, aber es klang irgendwie rumänisch. Oh Gott! Vielleicht stammte er aus Transilvanien! Ich schluckte. Ganz ruhig! Das hier ist bloß der Bücherclub...
„Ah, da kommt ja auch unser letztes Mitglied!", rief Mrs Penn fröhlich und winkte der ankommenden Person zu.
Ich drehte mich neugierig um, und bereute es in der selben Sekunde.
Es war kein anderer als Raphael.
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Werwolfsnacht - Die Chroniken von Intoria
WerewolfEs geschah in einer Vollmondnacht... Ich sah hoch. Vor mir stand der hübscheste Junge, den ich je in meinem Leben gesehen hatte. Seine Haut war schneeweiß, seine Haare dunkelbraun und seine Augen waren haselnussfarben. "Oh, ein Werwolfmädchen." Er...