24. Kapitel

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Als ich die Tür zum Trainingsraum aufstieß, erstarrte ich. Ich war wohl nicht die Einzige, die daran gedacht hatte zu boxen. Luke stand mit dem Rücken zu mir an einem der Boxsäcke und schlug auf ihn ein. Er drehte sich um und wir sahen uns in die Augen. Okay, ich konnte jetzt nicht einfach wieder rausgehen. Ich musste es durchziehen.
„Hallo!" Er schnürte seine Boxhandschuhe enger.
„Hi!", sagte ich halblaut und marschierte an ihm vorbei zu den Umkleiden. Hier war ich wenigstens für einen kurzen Moment allein. Wieso musste ausgerechnet er hier sein?!
Ich zog meine Sachen aus und schlüpfte in den hautengen schwarzen Anzug. Seufzend nahm ich eine Wasserflasche aus meinem Spind, trank einen Schluck und nahm sie mit zurück in den Trainingsraum.

Luke schlug immer noch auf den Sack ein, und es sah leider nicht so aus, als wäre er gleich fertig. Ich nahm mir ebenfalls ein Paar Boxhandschuhe aus der Kiste in der Ecke und zog sie über. Von ihm hörte man die ganze Zeit das pong, pong, pong seiner Schläge. Ich ging zu dem Sandsack, der am weitesten von Luke entfernt hing und machte probehalber ein paar Schläge.
„Bist du bald fertig?", fragte ich ihn schließlich den Atem anhaltend.
„Nein, ich bin erst vor einer Viertelstunde gekommen.", antwortete er mir zusammengebissenen Zähnen.
Na toll. Ich verdrehte die Augen und versetzte diesem blöden Boxsack ein paar Hiebe. Pong, pong, pong, pong. Das würde noch eine lange halbe Stunde werden ...
Nach etwa zehn Minuten hörte Luke auf zu boxen und drehte sich zu mir um. „Du und dieser ... Raphael ..." Er spuckte den Namen aus, als wäre er eine ansteckende Krankheit. „ ... seid ihr jetzt eigentlich ... getrennt?"
Woher wusste er das? Und was ging ihn das an?! „Was geht dich das an?", pampte ich ihn an.
„Seid ihr es?" Er nervte.
„Ja!", rief ich lautstark. „Zufrieden?!" Vor Wut glühte mein Gesicht förmlich.
„Wusste ich es doch ...", murmelte Luke, was mich fast zum Platzen brachte.
„Schön! Bist du jetzt glücklich? Denk ja nicht, dass ich mich dir jetzt an den Hals werfe, oder so was. Ich trauere gerade." Er kam mir langsam entgegen. „Du denkst, dass du es eh schon gewusst hast. Du hast von Anfang an gedacht, Vampir und Werwolf - Das wird nie funktionieren. Toll, jetzt hat es nicht funktioniert. Bist du zufrieden?! Hast du was du willst?"
Er stand jetzt ganz nah vor mir. Seine Augen strahlten im Licht der Neonleuchten und obwohl ich ihn gerade so beschimpft hatte, musste ich zugeben, dass er gut aussah. Seine Haare waren vom Sport verwuschelt und einzelne Strähnen hingen ihm in der Stirn. Ich widersetzte mich dem Drang sie ihm weg zu streichen. „Du bist süß, wenn du dich aufregst."
Hatte er sie noch alle? Ich war nicht süß! Gerade war ich aufgedreht und kratzbürstig.
Er legte eine Hand an meine Wange und strich mit dem Daumen darüber. Es fühlte sich warm und gut an. Was machte ich hier eigentlich? Sein Gesicht war gefährlich nah an meinem. Renn weg, gib ihm eine Backpfeife, was auch immer nur lass das hier nicht zu!, schrie mein Kopf. Doch mein Körper sah das anders. Ich meine, Raphael hatte sich heute Mittag kaltherzig von mir getrennt. Ich wollte den Kummer vergessen und Luke aus Rache küssen. Sollte Raphael es doch sehen, sollte er eifersüchtig werden. Ich musste mich nicht zurückhalten und ihm hinterher trauern! Ich schlang also meine Arme um Lukes Hals und er zog mich an sich.
„Du hast es dir also anders überlegt?", murmelte er und vergrub sein Gesicht in meinem Haar.
Mist! Was sollte ich sagen? Ja, ich liebe dich? Nein, denn ich liebte auch Raphael. Nein? Aber warum war ich ihm dann so nahe? Anstelle einer Antwort drehte ich sein Gesicht zu mir und küsste ihn. Keine zärtliche, sanfte Berührung - Nein, wir gingen gleich auf's Ganze. Es fühlte sich gut an, seine Lippen wieder auf meinen zu spüren, aber irgendwie auch falsch. Hatte ich es überstürzt? Ja, das hatte ich. Aber wieso konnte ich dann nicht aufhören? Ich öffnete den Mund und seine Zunge fuhr hinein. Meine Hände durchwuschelten seine Haare und seine wanderten an meine Hüfte. Plötzlich hörte ich ein Klacken. Es klang wie eine Tür. Dann zwei Schritte. Ich löste mich abrupt von Luke. Oh nein! Ich versteifte mich.
Es war Raphael.
Was war eigentlich los mit dem verdammten Schicksal?! Was machte er denn hier? Er sah mich an. In seinem Blick lag noch nicht einmal Wut, es war mehr Verletztheit und Enttäuschung, was beinahe noch mehr weh tat. Dabei waren wir eigentlich getrennt. Er hatte also theoretisch kein Recht sauer zu sein. Oder?
Jetzt hatte auch Luke bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Er drehte sich um und sah Raphael in der Tür stehen. „Ach, du scheiße ...", murmelte er und kratzte sich verlegen am Kopf.
Ich wurde rot und ging langsam auf Raphael zu. „Ich kann das erklären ..." Oh mein Gott! Dieser dämliche Satz aus Filmen, wenn klar ist, dass es genau das ist, wonach es ausgesehen hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal selbst sagen würde. Ich könnte mich dafür ohrfeigen ...
„Nein, danke!" Er drehte sich um und knallte die Tür des Trainingsraums zu.
Ich blieb stehen und kämpfte mit den Tränen. Von wegen, sollte er es doch sehen. Von wegen, sollte er doch eifersüchtig werden. Wieso war ich nur so dumm?!
Luke steuerte auf die Tür zu. „Ich werd' dann mal gehen." Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er den Raum schon verlassen.
Erschöpft ließ ich mich an der Wand nieder und legte meinen Kopf auf die Knie. Was für ein Mist! Ich war so enttäuscht von mir, dass ich fast durchdrehte. Tränen rannten mir die Wangen runter, während ich jämmerlich anfing zu schniefen. Ich hatte alles vergeigt. Und das an nur einem einzigen Tag! Respekt, Lia, Respekt! Ich wollte jetzt einfach nur nach Hause zu Mom und mich bei ihr ausweinen, doch Mom war in San Francisco - Meilenweit entfernt. Ich fühlte mich entsetzlich allein. Im Moment hätte allerdings nicht mal ich selbst Lust gehabt, Zeit mit mir zu verbringen. Traurig, aber wahr. Ich stand auf und zog mich um. Dann verließ ich den Raum und machte mich auf den Weg zu meinem Zimmer.
Es war an der Zeit, über alles nachzudenken.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt