20. Kapitel

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Am Samstagmorgen kam es mir so vor, als sei ich der einzige Mensch in ganz Overtum. Alle schienen noch zu schlafen, die Gänge waren wie leergefegt und die Vögel, die draußen zwitscherten, waren das einzige, was man hörte. Ich hatte leise die Zimmertür geschlossen, als ich vorhin unser Zimmer verlassen hatte. Sam hatte noch wie ein Murmeltier geschlafen und ich hatte mir sehnlichst gewünscht, auch wieder ins Bett zu können. Doch nein, ich musste jetzt zum Kontrolltraining. Allein. Ich seufzte. Die Mensa war leer. Nur ein paar vereinzelte Tablets, die vielleicht noch von gestern Abend waren, lagen auf den Tischen. Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und kaute lustlos auf einem Stück Brot. Immerhin gab es um diese Uhrzeit schon Frühstück, auch wenn ich keinen wirklichen Appetit hatte. Ich sah auf die große Uhr an der Wand. Es war Viertel vor acht. Ich konnte mich also schon mal auf den Weg zum Trainingsraum machen.

Als ich den Raum betrat, sah ich wider Erwarten nicht nur Chris vor mir, sondern auch zwei andere Werwölfe. Die beiden waren jeweils einen Jahrgang unter mir und zwei Jahrgänge über mir. Sie saßen in einem Kreis, falls das zu dritt möglich war.
„Hi! Da ist ja auch Lia.", rief Chris und deutete mir, mich zu setzten.
Ich hob halbherzig die Hand zum Gruß.
„Okay, wir machen heute praktisch wie beim normalen Unterricht Kontrolltraining - Diesmal nur intensiver. Stellt euch bitte in einer Reihe auf." Ich stöhnte leise. Nicht schon wieder ... „Ich werde euch ein bisschen provozieren und ihr müsst ruhig bleiben. Hört sich einfacher an, als es ist, aber das kennt ihr ja alle schon."
Wir stellten uns in eine Reihe und der erste, ein etwa vierzehnjähriger Junge, trat vor. Er war auffällig dünn und passte mit seinen blonden Haaren und dem schlaksigen Gang überhaupt nicht in das Werwolf-Klischee.
„Du bist ein Schwächling! Du Nichtsnutz! Siehst aus wie ein dreijähriger - ohne Muskeln.", feuerte Chris los. Ich schluckte. Es war immer wieder aufs Neue scheußlich mitanzusehen. Der Kleine blieb erstaunlich ruhig und rührte sich nicht.
„Klasse!", lobte er ihn und klopfte auf seine Schulter. „Gut gemacht."
Als nächstes war das etwa achtzehnjährige Mädchen dran. Sie war relativ groß, dunkelhäutig und hatte fast ganz abrasierte Haare. Sie fauchte, bevor Chris überhaupt den Mund aufmachte. Oh, oh ... Die schien ja ein ganz schwieriger Fall zu sein. Und tatsächlich. Chris beugte sich zu ihr. „Jacky, wir hatten das doch jetzt schon tausend Mal! Du hast viele Chancen von der Schule bekommen, aber du weißt, wenn du noch einmal deine Kontrolle verlierst, musst du Overtum verlassen. Bitte nutze diese letzte Chance, die ich dir hiermit gebe!"
Sie nickte und schien sich jetzt wieder einigermaßen beruhigt zu haben. „Ich kann nichts dagegen tun, es passiert einfach!", rief Jacky verzweifelt.
„Doch man kann etwas dagegen tun.", antwortete Chris. „Es gibt immer einen anderen Weg!"
Ich schielte zu dem Jungen. Ihn schien das Ganze kein Stück zu beeindrucken. Er sah auf seine Nägel, als hätte er diese Szene schon hundertmal gesehen. Wer weiß, vielleicht stimmte das ja auch ...
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als jemand auf einmal schrie: „Ich kann es aber nicht!!!"
Ich sah erschrocken hoch. Es war Jacky, die sich von Chris losriss und zur Tür stürmte.
„Jacky, wenn du jetzt diesen Raum verlässt, war's das für dich mit Overtum.", warnte er sie noch, doch da fiel die Tür schon mit einem lauten Knall zu.
Ich schluckte. Okay ...

„Sie ist von der Schule geflogen?" Rosa starrt mich an, als hätte ich gesagt, dass Justin Bieber heute ein Konzert für umsonst in Overtum gab.
„Ja, ich denke schon. Wahrscheinlich muss sie gerade ihre Sachen packen.", murmelte ich leise. Ziemlich heftig ...
Wir saßen alle zu viert an einem Tisch beim Mittagessen. Luke und Jeff waren nirgends zu sehen.
„Bitte Lia, du sollst nicht die Nächste sein, die geht!", rief Sam.
„Wieso? Passiert das öfter, dass jemand rausfliegt?" Ich sah sie entsetzt an.
„Nein.", beruhigte mich Mary-Ann mit halbvollem Mund. Sie schluckte. „Nur bei Härtefällen kommt es mal vor, aber du bist doch keiner von denen!"
Rosa nickte und trank einen Schluck.
Sam griff nach meinem Arm. „Du schaffst das! Erzähl doch erstmal, wie ist es bei dir gelaufen?"
„Gut.", antwortete ich. „Ich konnte mich zum Glück bei allem beherrschen. Ich glaube, Chris konnte es selbst nicht glauben!" Alle lachten. „Aber ich hoffe das es bei diesem einen Vorfall bleibt, ich meine, ich bin gerade mal eine Woche hier!" Ich stocherte in meinem Essen herum.
„Ja, stimmt.", antwortete Sam. Sie nahm mich in den Arm. „Aber es fühlt sich an, als wärst du schon viel, viel länger da!"
„Finde ich auch!", lachte ich. Ich hatte wirklich Glück, so gute Freunde in so kurzer Zeit zu finden.
„Also, was machen wir gleich?", fragte Rosa in die Runde.
Wir überlegten.
„Ich hab noch Kekse!", rief Sam plötzlich.
Weil diese Antwort so plötzlich und verrückt kam, bekam ich einen Lachanfall. „Schön, dass du noch Kekse hast!", japste ich.
„Du weißt es noch nicht, aber wir Mädels machen öfter mal eine Keksrunde.", klärte Mary-Ann mich auf. „Wir treffen uns in einem unserer Zimmer und quatschen und essen Kekse."
„Cool." Ich schob meinen Teller von mir weg. „Und das habt ihr jetzt vor?"
„Äh, ja." Sam grinste.
„Ok, dann mal los!"

Die Keksrunde war nett gewesen, aber trotzdem war ich froh, jetzt allein in der Bibliothek zu sein. Auch auf die Gefahr hin, Raphael dort zu treffen, obwohl wir ja offiziell erst für morgen verabredet waren. Der Duft der Bücher löste ein Gefühl der Geborgenheit und des Wohlbefindens in mir aus. Ich setzte mich in eine ruhige Ecke auf den Boden und griff eins der Bücher aus dem Regal. Es war ein Abenteuerroman. Ich hatte mich gerade in die Worte vertieft, da tippte mir jemand auf die Schulter. Ich sah hoch. Es war Luke.
„Hi!", sagte er und setzte sich zögernd neben mich.
Ich klappte das Buch zu - Nicht ohne vorher meinen Finger zwischen den Seiten zu lassen. „Hallo! Ich hab dich den ganzen Tag über nicht gesehen. Wo warst du?", fragte ich.
„Hier und da ...", entgegnete er ausweichend. „Ich dachte mir schon, dass du hier bist. Ich wollte dich nur etwas fragen."
Ich machte eine auffordernde Handbewegung.
„In der Schule hat sich rum gesprochen, dass du dich öfters ... na ja, mit einem Vampir triffst." Ohne Zweifel, er meinte Raphael. „Du hast dich außerhalb des Unterrichts zum Werwolf verwandelt. Hat er dich provoziert? Dich beleidigt?"
„Nein.", antwortete ich. „Es war nichts. Ich hatte mich einfach nicht im Griff in dem Moment."
Er zog eine Augenbraue hoch. „Okay. Seid ihr jetzt zusammen, oder so was?" In seinem Blick lagen Angst und Enttäuschung.
„Nein, das nicht."
„Aber ihr seid ineinander verliebt?"
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Luke, was soll das?"
„Ich mache mir Sorgen um dich! Jeder weiß, das Beziehungen zwischen Werwölfen und Vampiren zum Scheitern verurteilt sind. Es geht nicht! Beide Spezies hassen einander! Sie können nicht zusammen sein. Gut, vielleicht bin ich auch etwas eifersüchtig, aber ..."
Ich stand auf und schob das Buch zurück an seinen Platz im Regal. „Danke, aber du musst nicht auf mich aufpassen. Das kann ich auch alleine ganz gut." Und damit drehte ich mich um und ging.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt