12. Kapitel

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Am nächsten Tag hatten wir in der ersten Stunde Bio. Da ich noch mal zurück zum Zimmer laufen musste, weil ich mein Buch dort vergessen hatte, war ich die letzte, die den Bioraum betrat.
„Guten Morgen! Sie sind wohl Mrs Williams.", hielt mich ein etwa fünfzig Jahre alter Mann mit grauem Haar auf. Ich nickte. „Ich bin Mr Burke. Schade, dass ich dir gleich bei unserem ersten Treffen einen Eintrag wegen Zuspätkommen geben muss." Er notierte etwas.
„Äh, ich musste nur ...", fing ich an zu erklären.
„Nein.", unterbrach er mich rasch und klappte energisch sein Heft zu. „Keine Ausreden bitte!"
„Aber es ist keine ..."
„Setzen Sie sich Mrs Williams bevor ich noch Stören des Unterrichts hinzufügen muss!", unterbrach er mich erneut, etwas lauter dieses Mal. „Neben Mrs Robertson." Sam.
Ich schluckte und ging zu meinem Platz. Sam rutschte mit ihrem Stuhl zur Seite, damit ich Platz hatte.
„Danke!", murmelte ich halblaut und setzte mich.
Mr Burke fing an, etwas über Zellen und Zellkerne zu erzählen. Ich kramte nach meinem Block und einem Stift und versuchte konzentriert mitzuschreiben. Zwei Reihen vor mir saß Luke neben Rosa. Als hätte er meinen Blick im Nacken gespürt, drehte er sich um. Er lächelte mich an. Ich lächelte zurück. Zumindest versuchte ich es, denn ich spürte Sams Blick auf mir ruhen.
Auf einmal schob sie einen Zettel zu mir herüber. Verwundert starrte ich ihn an. Dann nahm ich ihn und faltete ihn unauffällig unter dem Tisch auf.

Es tut mir leid.
Dass er mich nicht mag, ist ja nicht deine Schuld, stimmt's?
Vertragen wir uns wieder?
o ja  o nein  o vielleicht

Ich musste schmunzeln. Mann, das war ja echt süß von ihr! Auch wenn ihr Sinneswandel mir etwas plötzlich vorkam, aber vielleicht hatte sie ja auch die ganze Zeit darüber nachgedacht. Ich kreuzte ja an. Was brachte es schon, wenn wir uns die restlichen zwei Schuljahre ignorierten? Ich schob den Zettel zu ihr zurück. Sie las und lächelte. Alles schien wieder in bester Ordnung zu sein.

In der zweiten Stunde hatten wie Werwolftraining. Ich schluckte. Das letzte Mal war es nicht besonders gut gelaufen. Hoffentlich war Chris nicht immer noch sauer auf Jeff und mich.
"Hi, Leute!", rief er während wir alle um ihn herum saßen. "Aufgrund des kleinen Vorfalls letzte Woche schlage ich vor, dass wir heute Kontrolltraining machen." Er sah erst mich und dann Jeff eindringlich an. "Also stellt euch in eine Reihe nebeneinander. Ich werde euch mit etwas konfrontieren. Wenn ihr die Kontrolle behaltet und euch nicht verwandelt - Super. Wenn doch scheitert ihr damit."
Wir stellten uns in eine Reihe und sahen ihn aufmerksam an. Ich hatte zugegeben etwas Angst, da Kontrolle noch nicht wirklich mein Ding war. Langsam schluckte ich den Kloß in meinem Hals runter.
„Also ...". Chris ließ seinen Blick über uns wandern. „Luke, starten wie mit dir!" Luke trat nach vorne und sah geradeaus in Chris Augen. „Du wirst die, die du begehrst nie bekommen!", fauchte unser Trainer und stellte sich in die Vierpfotenposition.
Luke blieb steif und bewegte sich keinen Millimeter.
Ich runzelte die Stirn. Du wirst die, die du begehrst nie bekommen? Was war das denn bitte für ein Satz?
Einen Augenblick später rief Chris auch schon: „Super! So soll das sein. Habt ihr gesehen? Er hat sich nichts anmerken lassen!" Lobend klopfte er ihm auf die Schulter. „Gut gemacht, Junge!"
Luke reihte sich wieder ein.
„Als nächstes Sam!"
Sie zwinkerte mir zu. „Das schaffe ich mit links!" Sam trat zwei große Schritte nach vorn.
„Also Sam, du liebst den Falschen und er wird dich nie beachten!", rief Chris
Schon wieder so ein merkwürdiger Satz. Waren das Dinge, die er von uns wusste? Private Gefühle? In dem Fall redete er von Luke. Ich verschränkte die Arme. Eine merkwürdige Trainingsmethode ...
Sam schrie wutentbrannt auf und begann zu fauchen. Ihre Knochen brachen als sie, merkwürdig verkrümmt, zum Werwolf wurde.
„Ruhig, Sam!", rief Chris. Und wurde zu seiner Sicherheit auch zum Wolf. Er und Sam kämpften einen Moment. Sie wollte ihre Klauen in ihn schlagen, doch er wich geschickt aus. Nun schien sie sich wieder etwas beruhigt zu haben und verwandelte sich langsam zurück. Sie brach zusammen und hockte auf der Matte wie ein nasses Etwas. Keuchend und verschwitzt stellte sie sich schließlich zurück in die Reihe. Ein leises Knurren drang trotzdem noch aus ihrer Kehle.
„Äh, ja ..." Chris kratzte sich am Kopf. Auch er sah erschöpft und nass aus. „So sollte es nicht laufen. Achtet darauf, ruhig und gleichmäßig zu atmen! Das ist ganz wichtig. Sobald ihr unkonzentriert seid, hektisch atmet oder die Wut die Oberhand gewinnt, verwandelt ihr euch." Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Also, die Nächste ist Lia."
Bitte nicht! Ich wollte am liebsten in einem Loch in der Erde verschwinden und nie mehr rauskommen.
„Lia?" Abwartend sah er mich an.
Ich schüttelte den Kopf. Das würde schief gehen, wir wussten es alle! Ich spürte Tränen in meinen Augen aufsteigen. Ich wollte nicht! Nicht hier, nicht vor allen, vor Jeff ...  Nadine lachte leise. Ich schluckte.
Sam drückte meinen Arm. „Komm schon, Lia! So schwer ist es nicht." Das musste sie gerade sagen! "Wenn du es machst, hast du es hinter dir!"
Chris kam zu mir, während alle mich anglotzten. Mir brach der Schweiß aus. Er wollte mich doch jetzt nicht auffordern, oder? Doch, das wollte er.
Sanft zog er mich nach vorne. Dann nickte er mir zu. Schlagartig änderte sich seine Miene. „Lia, du bist unreif und kannst nicht mit deiner Gabe umgehen!"
Ich knurrte. Was sagte er da? Ich war unreif? Er war unreif, wie er mich hier vorführte und drängte. Ich schnaubte. Ruhig, Lia! Atme! Ich versuchte mich nur auf meinen Atem zu konzentrieren und schloss die Augen. Ein, aus, ein, aus.
„Super, Lia! Du kannst es!", rief Chris auf einmal und klopfte mir auf den Arm.
Ich öffnete verwirrt die Augen. Helles Neonlicht blendete mich. War es schon vorbei? Die Gesichter der anderen waren erstaunt. Einige von ihnen flüsterten leise miteinander.
Scheinbar schon. Ich trat zurück in die Reihe. Alle starrten mich verwundert an. Tja, damit hatten sie wohl nicht gerechnet, denn ich hatte es ja selbst noch nicht einmal gewusst. Ich war ruhig geblieben!

In Englisch saß ich wieder neben Luke. Er rückte mir förmlich auf die Pelle und sah mich dauernd an.
„Im Werwolfunterricht warst du echt klasse!", raunte er mir zu.
Mrs Andrews schien es nicht zu bemerken, da sie gerade über englische Literatur monologisierte.
„Danke.", antwortete ich. Ich wusste nicht, wie ich für Luke empfand. Einerseits war er total aufmerksam und nett, aber andererseits auch aufdringlich und zu freundlich und zuvorkommend. Ich seufzte leise.
„Alles okay?"
Ich nickte. „Danke der Nachfrage. Ich langweile mich nur endlos in Mrs Andrews Unterricht.", log ich.
„Mrs Williams!", rief die natürlich prompt. „Sie scheinen wohl öfters den Unterricht stören zu wollen! Kommen Sie bitte nach der Stunde zu mir."
Na toll. Jetzt hatte mir Sonnyboy eventuell auch noch eine Extraaufgabe aufgebrummt.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt