5. Kapitel

3K 105 3
                                    

Ich stutzte. Ein Internat. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte mehr an einen Arzt oder einen Heiler gedacht, der mich von diesem Wolf in mir befreien konnte. Wie sollte ich denn sonst jemals wieder zur Highschool gehen? Oder überhaupt normal leben? Scheinbar schien Mom dieses Problem zu lösen zu wissen - Indem sie mich auf ein Internat schickte. Ich starrte ins leere. Unglaublich. Selbst wenn es kein gewöhnliches Internat war, Internat war Internat! Was war mit meinem alten Leben in San Francisco, mit Emily? Dieses Intoria war ja noch nicht einmal eine normale Welt, sondern eine Unterwelt!
"Ich wusste, dass du es nicht vertragen würdest ...", murmelte Mom und sah zu Boden.
"Und deshalb ist es besser, gar nicht erst davon anzufangen?", schrie ich empört. "Was hattest du denn vor? Mich dorthin zu bringen und zu gehen, in der Hoffnung, dass ich keine Fragen stelle? Ich bitte dich!"
"Nein, ich ... dachte, es wäre besser, wenn du es erst kurz vorher erfährst." Mom wirkte auf einmal so klein und hilflos. Eine Sekunde lang tat sie mir leid, doch dann übermannte mich schon wieder neue Wut.
"Kurz vorher wie direkt vor dem Eingang?" Ich kreuzte die Arme vor der Brust. Es war nicht nur Wut, die mich zum kochen brachte, nein, es war auch Enttäuschung. Ich fühlte mich regelrecht abgeschoben.
"Lia, lass uns bitte einfach dorthin gehen. Wir erregen schon zu viel Aufmerksamkeit!" Sie deutete auf die Passanten, die uns anstarrten. Als sie meine Hand fassen wollte, schüttelte ich sie ab und ließ eine Lücke zwischen uns als wir unseren Weg fortsetzten.

Overtum sah aus wie ein riesiges Schloss. Leichte Nebelschwaden umhüllten das daliegende Gebäude. Im Hintergrund die Berge und der Schimmersee, umrahmt von Wald. Es hatte fünf Türme, von denen die Spitze des einen schon in den tiefhängenden Wolken verschwand. Eine steinerne Brücke führte über ein Tal aus Bäumen zur berühmt berüchtigten Schule des Übernatürlichen. Ich musste nicht schlecht gestaunt haben, denn Mom meinte: "Schön, nicht?"
Entgegen meinem Willen nickte ich. Ein kalter Wind fegte über die Brücke und es war, trotz dass es April war, ziemlich frisch. Abgesehen von uns beiden, war kein Mensch zu sehen. Es wirkte beinahe gespenstisch, aber was war bei einer Behausung von Vampiren, Hexen und riesigen Wölfen schon anderes zu erwarten? Den Eingang bildete eine hölzerne etwa zwei Meter hohe Tür, deren Griff ein Eisenring war - Nicht gerade sehr modern.
Mom schien meinen skeptischen Blick bemerkt zu haben. "Diese Schule ist schon uralt und insbesondere die Vampire bestehen hier auf Nostalgie." Das glaubte ich ihr gern ...
Sobald ich einen Schritt durch die Tür gemacht hatte, fühlte ich mich winzig klein. Die Decke war unglaublich hoch und mit schwarzer und dunkelroter Farbe verziehrt. Von der Eingangshalle gingen vier breite Gänge ab.
Von rechts neben mir ertönte eine helle Stimme. "Guten Tag! Kann ich Ihnen helfen?" Ich drehte mich herum. Eine blonde Frau, die einen dunklen Blazer trug, sah Mom und mich erwartungsvoll an. Sie sah neugierig hinter ihrem Computer hervor.
„Ich bringe eine neue Schülerin, meine Tochter Lia Williams." Mom schob mich sanft nach vorne zur Anmeldung.
Die Dame lächelte. "Willkommen in Overtum! Und du bist?"
Hatte Mom das nicht schon eben gesagt? "Äh... Lia Williams.", murmelte ich erneut.
Sie lachte auf. "Oh, ich meinte, ob du eine Hexe, ein Vampir oder ein Werwolf bist?"
Peinlich. Ich errötete leicht. "Werwolf."
"Seit wann?"
"Gestern Nacht."
"Also noch ganz frisch - Entzückend!" Sie tippte etwas in ihren Computer ein und nickte anschließend. "Gut. Dann verabschiede dich jetzt bitte von deiner Mutter und setz dich dort drüben auf eines der Sofas. Deine Mutter wird mir die restlichen Informationen geben und eine Schülerin wird dich gleich abholen und zu deinem Zimmer bringen. Die Schulbücher werden in deinem Zimmer bereitliegen." Abwartend sah sie von mir zu Mom und zurück. Jetzt war es wohl an der Zeit, sie zu verlassen.
"Tschüss, Mom.", wisperte ich und schloss sie in die Arme. Der vertraute Geruch ihres Parfüms zog mir in die Nase und beinahe hätte ich geheult. Ich wollte nicht hierbleiben! Bei diesen irren, übernatürlichen Wesen. Das konnte nicht sein! Ich war keiner von denen!
"Ich hab dich lieb!" Meine Mutter küsste mich auf die Stirn und wenn ich mich nicht irrte, schimmerten auch Tränen in ihren Augen.
"Mom, ich will hier nicht bleiben!", schluchzte ich. Hatte die Frau an der Anmeldung gerade geseufzt?!
"Ach, Schätzchen!" Mom strich mir übers Haar. "Ich war auch hier vor vielen Jahren. Diese Schule hier ist der einzige Ort, an dem du ... sicher bist und wo du lernen kannst, mit deinem neuen Leben umzugehen."
Ich schwieg. Vielleicht hatte sie recht, aber es war trotzdem hart. Im Hintergrund hörte ich das ungeduldige Klappern der Fingernägel der Frau auf dem Tisch. "Und wann ist es vorbei?"
"Das ist eine ganz normale Schule. Du wirst hier bis zur zwölften Klasse zur Schule gehen", schaltete sich die Dame ungefragt ein.
Ich sah Mom fragend an. Sie nickte. "Ja. Dann bist du ein ganzer Werwolf! Ich werde kommen, wenn es so weit ist."
"Was?!", rief ich entgeistert. "Dann ist das ja erst in zwei Jahren!"
"Tut mir leid! Das sind hier die Anforderungen. Eltern beeinflussen das Lernen. Wenn immer wieder die Bindung zu ihnen aufgebaut wird, werden die Schüler nie selbstständig oder entwickeln sich weiter. Außerdem ist es nur fair gegenüber den Schülern, deren Eltern ihre Kinder nicht hier in der Unterwelt besuchen können." Die Frau zuckte entschuldigend mit den Schultern.
"Bis dann!" Mom schob mich sanft von sich und deutete zu den Sofas hinüber. "Geh schon!"
Ich nickte geknickt. "Tschüss." Dann drehte ich mich um, ließ Mom stehen, nahm den Rucksack ab und setzte mich mit dem Rücken zu ihr auf eines der Sofas. Ich seufzte. Was für ein Knast! Und hier sollte ich zwei Jahre lang bleiben?! Allein? Mein Kopf sank erschöpft in die Polster. Langsam schloss ich die Augen.
Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, doch plötzlich sagte eine Stimme: "Hallo?"
Ich riss die Augen auf und setzte mich ruckartig auf. "Ähm, hi!", stammelte ich. War ich etwa eingeschlafen? Ich drehte meinen Kopf zum Eingang. Mom war weg. Die Frau tippte seelenruhig irgendwas in ihren Computer.
"Du bist dann wohl Lia Williams", stellte das Mädchen fest. Es war in meinem Alter, hatte lange schwarze Haare und eine für April ziemlich gebräunte Haut.
"Ja."
Ihre hellbraunen Augen musterten mich argwöhnisch. "Okay, ich bin Samantha, aber nenn mich einfach Sam. Wir teilen uns ein Zimmer. Jedenfalls - Willkommen in Overtum!"

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt