25. Kapitel

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Als ich den Flur zum Werwolfflügel ging, war niemand zu sehen. Ich unterdrückte die immer wieder aufkommenden Tränen mühsam und sah zu Boden. Ich fühlte mich ausgelaugt und schlapp - Was ein Tag! Was ich jetzt wollte, war einfach nur allein zu sein und zu schlafen. Ich sah vom Boden auf. An die Flügeltür zum Werwolftrakt angelehnt saß Raphael auf dem Boden. Er stützte den Kopf in die Hände und ließ die Schultern hängen. Ich hielt einen Moment lang inne. Sollte ich zu ihm gehen? Aber was sollte ich sagen? Er hasste mich bestimmt gerade und wollte alles tun, außer mit mir zu reden. Ich seufzte und wollte gerade an ihm vorbei gehen, da ertönte ein Gong.
„Liebe Schüler und Schülerinnen, bitte bewahrt Ruhe! Es kam soeben die Meldung rein, dass sich Dragozius bereits in Overtum befindet. Wir wissen nicht, wo er ist und ob er schon einen Schüler ausgewählt hat. Geht auf eure Zimmer und schließt die Türen ab! Dies ist ein Befehl! Danke." Der Gong ertönte wieder.
Ich drehte mich nach Raphael um. Er war aufgesprungen und starrte mich an. Dragozius war hier?! Ich atmete hektisch. Wo war er?
„Was sollen wir jetzt tun?", schrie ich voller Panik. Da kam mir ein Gedanke in den Kopf. „Oh Gott, Sam! Wo ist sie? Ich muss sie sofort suchen gehen! Vielleicht ist sie in Gefahr!"
Ich wollte losstürmen, doch Raphael hielt mich am Ärmel fest. „Nicht, Lia! Du weißt nicht, wo er ist! Du darfst dich nicht in Gefahr bringen." Seine Stimme war im Gegensatz zu meiner vollkommen ruhig.
„Aber vielleicht ist sie in unserem Zimmer. Der Direktor meinte doch, dass wir dahin gehen sollen!" Meine Stimme war laut und zittrig.
„Okay, aber ich begleite dich zur Sicherheit.", antwortete er und wir rannten los zu meinem und Sams Zimmer. Unsere Schritte hallten vom Boden wieder und hinter den Türen, an denen wir vorbei liefen, hörte man aufgeregte Schülerstimmen.
Der Tag der Tage war gekommen.

Ich riss die Tür auf.
„Sam? Sam!", hektisch rannte ich in ihr Zimmer. Alles lag einsam und verlassen da. Nichts. „Sam!" Ich riss die Tür zu meinem auf - Wieder nichts. „Sie ist weg! Sie ist nicht hier!", rief ich zu Raphael, der im Türrahmen stand. Aus lauter Verzweiflung riss ich sogar ihren Kleiderschrank auf, doch auch dort war sie nicht. Natürlich nicht.
„Lia, beruhige dich! Vielleicht ist sie bei ihren Freundinnen."
„Stimmt! Sie war vorhin mit Mary-Ann und Rosa in der Bibliothek. Komm, ich weiß, wo ihr Zimmer ist!" Ich rannte los, er folgte mir.

Bei ihrem Zimmer angekommen, hämmerte ich an ihre Tür. „Ich bin's Lia! Macht auf!"
Zögerlich öffnete Rosa die Tür. „Hi! Was ist los? Wieso bist du nicht in deinem Zimmer?" Sie sah verängstigt aus und sah sich unruhig im Flur um.
„Wo ist Sam? Sie ist weg!", rief ich statt einer Antwort.
„Was?!" Mary-Ann kam ebenfalls zur Tür. „Sie wollte vorhin genau wie wir in ihr Zimmer gehen."
„Da ist sie aber nicht. Wisst ihr, wo sie sein könnte?", fragte ich.
„Nein." Oh Gott, Sam, wo bist du nur?
„Sollen wir dir suchen helfen?", bot Mary-Ann an. Rosa schien nicht begeistert von der Idee zu sein, ihr sicheres Zimmer zu verlassen.
„Nein, Raphael und ich machen das schon!" Ich wand mich zum gehen und zog Raphael mit mir. "Aber danke!"
Sie nickten und schlossen die Tür.
"Okay, wohin jetzt?" Ich sah mich suchend um.
„Lia." Er legte mir die Hände beruhigend auf die Schultern. „Er ist hier. Die Chance ihn zu treffen, wenn wir hier rumrennen, ist zu groß."
„Aber ich muss sie suchen!", protestierte ich. Niemals würde ich Sam kampflos diesem Typ überlassen.
„Das verstehe ich, aber sie könnte überall sein. Wie wär's, wenn wir die Hauptpunkte, also Mensa, Toiletten und Bibliothek, abgrasen, und wenn sie da nicht ist, verstecken wir uns, in Ordnung?"
Ich nickte. Ein Wunder, dass er unter diesem Druck noch einen vernünftigen Vorschlag zu Stande brachte.
„Okay, dann zuerst zu den Toiletten!"
Ich lief voraus. Bei den Waschräumen angekommen, riss ich alle Kabinentüren auf und sah hinter alle Duschwände, doch sie war nirgends zu finden.
„Nichts!", murmelte ich enttäuscht, als ich wieder auf den Flur trat, wo Raphael gewartet hatte.
„Dann die Mensa!", schlug er vor.
Während wir den Gang entlang liefen, fragte ich: „Glaubst du, dass wir sie finden?"
„Ich hoffe doch.", antwortete er und ich war erstaunt, dass wir trotz der Trennung und des Kusses normal miteinander reden konnten. Vielleicht würde ja nach alldem, alles wieder gut werden? Aber wahrscheinlich war er nur so nett, weil ich in Panik war und er mir nur helfen wollte. Ich verbannte den Gedanken tief in das hinterste meines Gehirn. Es ging jetzt nicht um mich, sondern um Sam!
Ich stieß die Türen der Mensa auf. Sie war menschenleer. "Sam?", rief ich trotzdem, falls sie sich hier irgendwo versteckte, doch es kam keine Antwort. "Dann die Bibliothek.", sagte ich und machte auf dem Absatz kehrt.
Als wir die Bibliothek betraten, fühlte es sich anders an, als sonst. Auch hier war auf den ersten Blick niemand. Nicht einmal Mrs Penn, wie sonst immer.
„Komisch, so ganz allein hier zu sein ...", murmelte Raphael und schritt durch die Gänge.
Ich tat es ihm gleich. "Ja."
Plötzlich tauchte ein verängstigter Achtklässler hinter einem Regal hervor. Beinahe hätte ich vor Schreck geschrien. „Was machst du denn hier?", fragte ich den Kleinen.
„Ich hab mich nicht getraut, mich zu bewegen. Sonst hätte Dragozius mich vielleicht bemerkt.", stammelte er.
„Geh in dein Zimmer. Na, los! Da bist du in Sicherheit."
Er nickte tapfer. „Okay. Es ist gar nicht weit weg. Ich bin nämlich ein Hexer!"
„Cool! Dann lauf schnell los!" Ich sah ihn aufmunternd an. Ehe ich mich versah, war er auch schon losgeflitzt. „Raphael? Lass uns losgehen. Sie ist hier nicht.", sagte ich.
Er kam zu mir. „Okay. Wir sollten in den Keller. Da sind wir sicher."
„Wieso ausgerechnet dort?", fragte ich und machte die schwere Tür auf.
Er schlüpfte hindurch. „Das wirst du gleich sehen ...", murmelte er geheimnisvoll.

Werwolfsnacht - Die Chroniken von IntoriaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt