Ein seltsamer Fund

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Missmutig durchwühlte Louise ihren überdimensionalen Kleiderschrank, der wegen seines übervollen Innenlebens fast zu platzen drohte.
Massenweise Blusen, Röcke, Hosen und andere Kleidungsstücke stopften die verschiedenen Fächer bis zum Äußersten.
Auch, wenn es aufgrund dieser Situation so aussah, als ob Louise jenes der Mädchen wäre, die jede Woche einen Einkaufsbummel machten und deren Schränke das Ausmaß einer Pferdebox besaßen (zugegeben, ihrer war auch fast so groß), war Louise keines solcher Mädchen.
Sie ging höchstens einmal monatlich in eines der Geschäfte, um sich umzusehen und selbst dann war es nicht gewiss, ob sie überhaupt fündig wurde.
Ihr Problem bestand meist darin, dass ihr die Teile gefielen, wenn sie an der Stange hingen oder von einer Plastikpuppe zur Schau getragen wurden -
aber sobald sie sie anprobierte und sich im Spiegel der Kabine von allen Seiten kritisch betrachtete, fand sie, was sie trug, unmöglich und gab die Sachen der Verkäuferin zurück.

Das war ihr in letzter Zeit so oft passiert, dass sie die Verkäuferinnen inzwischen genervt anstarrten, wenn sie jeden Kleiderstoß wieder zurück gab.
Louise wartete schon darauf, ob sie ihr nicht irgendwann einmal sagten: "Sag mal, wenn dir das, was du dir aussuchst, nicht gefällt, dann suche doch zur Abwechslung einmal etwas aus, das dir GEFÄLLT!"

Der eigentliche Grund des übervollen Kleiderschranks war ihre nette, wenn auch etwas sonderbare Großmutter. Louise mochte und hatte auch nichts gegen sie, doch ihre Oma besaß eine Eigenart: Ständig schenkte sie ihr Kleidungsstücke von denen eines schlimmer war als das andere!
Mit der Zeit nervte es Louise, denn ihr Schrank quoll über von Kleidung, die sie so gut wie nie anzog, weil sie darin je nachdem wie eine Presswurst,
Rotkäppchens Großmutter oder Miss Marple aussah -
jedenfalls nicht wie ein Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts!

Nicht, dass Louise der Typ war, für den Mode die größte Rolle spielte, natürlich kleidete sie sich auch gerne modisch, jedoch war es kein absolutes "Muss" für sie.
Ihrer Meinung nach, musste es nur einen Unterschied zwischen dem Modegeschmack ihrer Oma und ihrem geben, den ihre Großmutter aber offensichtlich nicht wahrnahm.

Immer wieder bekam Louise Päckchen voll mit grässlichen Blusen, Halstüchern oder Röcken die, - wenn sie Glück hatte!
- in den Achtziger-Jahren modern gewesen wären, anderenfalls auch älter - ihrem Aussehen nach zu urteilen. Doch so sehr Louise diese Kleidungsstücke auch verabscheute, so wenig brachte sie es doch übers Herz sie zu verschenken oder zu spenden. Sie wusste, damit würde sie ihrer Großmutter das Herz brechen.

Plötzlich berührte Louise Hand etwas weiches, das zugleich ein wenig kratzte.
Neugierig versuchte sie, ihren Fund heraus zu ziehen, was sich jedoch als äußerst schwierig erwies:
Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre Louise der Meinung gewesen, der Schrank versuchte, das Ding mit aller Kraft festzuhalten, so dass sie es nicht in die Finger bekam. Ihr Kopf färbte sich rot vor Anstrengung, während sie versuchte, gleichzeitig vorsichtig und mit aller Kraft zu ziehen, um zu verhindern, dass das teure Stück riss. Nach ein paar Augenblicken zog sie ihren Fund mit einem Ruck, gefolgt von einem hässlichen Reißen, aus dem Schrank. "Oh Nein!" schrie sie entsetzt auf und sah auf das Kleid zwischen ihren Fingern, die zaghaft über den feinen Stoff strichen. Das Entsetzen über die unglückliche Folge ihrer Ungeschicktheit, wich ungläubigem Erstaunen:
War das ein weiteres Geschenk von ihrer Oma, ein weiterer "Gaul, dem sie nicht ins Maul sehen" sollte?

Verwundert entfaltete sie das gelbe Kleid zu seiner vollen Größe: "Wunderschön" wäre nicht das richtige Wort dafür gewesen, denn es ging etwas von diesem Kleid aus, das sich nicht so einfach beschreiben ließ - etwas magisches, unerklärliches.
Die helle Seide strahlte wie die Sonne. Es schien eher in eine Märchenwelt zu passen als in Louise Kleiderschrank: Waren es die goldenen Verzierungen, die sich in geordneter Reihe, um die untere Hälfte des kleinen Reifrocks schnörkelten, der in regelmäßigen Wellen bis zum Boden fiel oder die perfekt geformte gelbe Rose, die in der Spitze des V-Ausschnitts dem Kleid etwas romantisches verlieh?
Louise Blick glitt zu ihrem Schrank, dessen himmelblaue Flügeltüren weit offen standen. "Was hast du da nur ausgespuckt?" fragte sie in die Kleiderstapel hinein, augenblicklich der festen Überzeugung, er könnte ihr antworten.
Sie starrte, mit den Flügeln der Fantasie abgehoben, ins Innere des Schränke und erahnte ein Leuchten zwischen den Ritzen der Kleiderstapel.
Ein Windstoß ließ das Kleid in ihren Händen flattern. Dann fielen die Flügeltüren mit einem lauten Knall zu und etwas kleines segelte, wie im Tanz durch die Luft.

Es war das blutrote Blütenblatt einer Rose.

Das MärchenkleidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt