Das Fläschchen

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Die Tore des schwarzen Schlosses waren fest verschlossen.
Tassilo stieg ab und führte Philipp hinter die Bäume.
Wenn die Wachen das leuchtend weiße Fell des Hengstes sahen, wäre er verloren!
Vergeblich suchte der kleine Junge nach einer Lücke in den Schlossmauern, durch die er hindurch schlüpfen konnte.
Doch er fand nichts.
"Ich muss den König finden! Ich muss ihm sagen, was mit den zwei Prinzessinnen und dem Prinzen geschehen ist!" sagte er sich immer wieder vor, um nicht zu verzweifeln.
Vielleicht kam die neue weiße Fee doch nicht zurück?
Wenn die Feen Recht behielten, würden siebzehn Jahre vergehen, ehe die weiße Fee hierher kam!
Aber dann würde sie zu spät kommen, dann würde König Adam nicht mehr leben!
In den Kerkern der schwarzen Fee überlebte niemand länger als ein Jahr! Das wusste Tassilo aus Erzählungen und Erlebnissen, die er von Freunden und Bekannten der Gefangenen gehört hatte:
Alle waren im Lauf eines Jahres irgendwann verstorben.
Man vermutete, dass dort unten in den dunklen Zellen Hunger, Durst und eine schreckliche unbekannte Krankheit ihre Opfer dahin rafften.
Aber genau wusste es niemand.
Fieberhaft suchte Tassilo weiter.
Plötzlich wurde er fündig:
Auf Grashöhe entdeckte er einen Spalt, gerade so groß, dass sein Kopf hindurch passte. Für einen Augenblick schloss Tassilo erleichtert die Augen: Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte!
Im nächsten Moment aber griff Unsicherheit nach seinem Herzen: Wie sollte er da durch kommen?
Ein Rascheln.
Wie der Blitz fuhr Tassilo herum.
Wurde er etwa beobachtet?
Schnell verschanzte er sich hinter einem Busch, ein paar Meter weiter und lauschte.
Erneut ertönte ein Rascheln.
Tassilo begann zu zittern.
Was war das?
Es klang so als bräche eine größere Gestalt durchs Dickicht. Ein Tier?
Wieder raschelte es und in nächster Sekunde brach ein mächtiger Vierzehnender durchs Gebüsch, der sofort schnaubend anhielt.
Auf seinem Rücken erkannte Tassilo eine Reiterin. Ihre Flügel schlugen sacht gegeneinander.
"Du musst das nächste Mal vorsichtiger durch den Wald laufen!" , schalt sie den König des Waldes liebevoll und streichelte seinen Hals. "Sonst weckst du noch die anderen Tiere auf oder schlimmer noch...die schwarze Fee!"
Nachdem sie das gesagt hatte, wackelte der Hirsch zur Antwort mit den Ohren. Dann legte er sich langsam nieder und die Fee stieg ab.
"Tassilo?" , rief sie leise und der Angesprochene erschrak: Sie kannte seinen Namen!
"Tassilo, ich bin es, die braune Fee! Ich will dir helfen!"
Nach diesen Worten überwand der Junge seine Angst und trat hinter dem Strauch hervor. "Hier bin ich!" flüsterte er zurück.
Die braune Fee sah in seine Richtung und kam rasch näher. Sie stellte keine Fragen und drückte ihm ein winziges Fläschchen in die Hand.
"Was ist das?" fragte Tassilo verwundert.
"Du wirst es brauchen." , wisperte die braune Fee. "Ich besitze als einzige Fee die Fähigkeiten, mit Tieren zu sprechen und mich in jedes beliebige ihrer Art zu verwandeln und Pflanzen zu heilen.
Mit Hilfe dieses Pulvers wird es dir gelingen, den König zu befreien.
Es ist genug darin, um dich und den König in Fliegen zu verwandeln."
"In Fliegen?" fragte Tassilo mit hochgezogenen Augenbrauen.
Wäre die Situation nicht so gefährlich gewesen, hätte er laut gelacht:
Die Mission, auf der er sich befand, war schwierig genug und es sollte helfen, sich in eine Fliege zu verwandeln?
"Vertrau mir bitte!" , bat ihn die braune Fee. "Streu das gesamte Pulver auf dich. Innerhalb eines Augenblicks wirst du eine Fliege sein und kannst durch den Spalt fliegen! Du suchst den König, setzt dich auf seine Schulter und schüttelst dich. Das restliche Pulver wird auch ihn in eine Fliege verwandeln und ihr könnt gemeinsam fliehen! Der Wächter wird euch so nicht bemerken!"

Tassilo sah sie freudig überrascht und zugleich fasziniert an.
"Ja, das könnte klappen!" , erwiderte er, runzelte jedoch die Stirn.
"Wie lange hält die Verwandlung an?"
"Eine halbe Stunde. Du musst dich beeilen!"
"Aber was ist, wenn der König krank ist?"
"Krank?"
"Ja, in den Zellen dort unten gibt es eine gefährliche Seuche, die für Menschen hochansteckend ist.
Was ist, wenn der König davon befallen ist?"
Die braune Fee atmete zischend aus.
"Wenn das der Fall sein sollte, wirkt das wenige Pulver nicht.
Dann rufe ich die zinnoberrote Fee.
Sie wird die Krankheit eine Zeit lang eindämmen können, so dass das Pulver wirken kann.
Wenn er verwandelt ist, bringt sie ihn in ihren Palast. Dort kann sie ihn gesund pflegen.
Wenn du siehst, dass der König krank ist, fliegst du heraus und setzt dich auf meine Nase. Dann rufe ich meine zinnoberrote Schwester."
"Aber diese Seuche soll unheilbar sein!" warf Tassilo ein.
Die braune Fee schien beleidigt:
"Ihr Menschen! Ihr wisst nicht, wozu wir Feen fähig sind!
Meine Schwester wird es schaffen!
Aber es gibt einen Haken..." ,
Sie sah Tassilo ernst an.
"Wenn die zinnoberrote Fee die Krankheit jetzt eindämmt, wird sie später umso stärker ausbrechen.
Es kann sein, dass sie ihn in einen langen Schlaf versetzen muss, damit er überlebt!"
Tassilo schluckte schwer.
Gerade hatte er noch die Hoffnung besessen, er würde den König retten können, aber dass es so ausgehen könnte...?
Das konnte er doch nicht riskieren!
Aber andererseits: rettete er den König nicht, würde er in der Zelle elendig sterben!
"Dann....tun wir es." entschied er sich mit belegter Stimme. Die braune Fee nickte.
"Und noch etwas Tassilo: Wenn du nach einer halben Stunde nicht zurück bist, kann ich nichts mehr für dich tun. Du wirst wieder du sein und der Wächter könnte dich sehen."
Tassilo nickte. Nun begann seine riskante Rettungsaktion, für die er Leib und Leben riskierte...


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