Der kleine Junge erwachte.
Sein Bein war wegen des gebrochenen Knochens rot angeschwollen und hatte sich unnatürlich verdreht.
Er ließ seinen Blick im Raum umher schweifen. Seltsam!
Die Wände, der Boden und die Decke sahen aus als bestünden sie aus Glas! Ächzend erhob sich Tassilo und stolperte, so gut es mit seinem verletzten Bein ging, zur anderen Seite des Raumes. Wo war er?
Und wo war die braune Fee?
Er erinnerte sich an das, was vorgefallen war: die schwarze Fee hatte Philipp im Wald entdeckt und wollte ihn fangen, aber er und die braune Fee hatten verzweifelt versucht, sie davon abzuhalten.
Das war ihnen letzten Endes bitter misslungen!
Stattdessen saß er nun hier, ein erneuter Gefangener der schwarzen Fee. Tassilo trat hinkend, näher an eine der Glaswände heran und spähte hindurch. Er erkannte nichts.
Das Glas schien von außen wie mit Schnee bedeckt.
Plötzlich ertönte aus dem Nichts eine Stimme. Tassilo erschrak fürchterlich und taumelte, fing sich aber wieder und lauschte angstvoll.
"Sag mir, was du siehst!"
"Was?" , fragte Tassilo verdattert. "ich weiß wer du bist! Was willst du von mir?"
Der Glasraum schien der darauf folgenden Lautstärke nicht gewachsen zu sein. Er bebte, dass die Wände wackelten. Entsetzt drückte sich Tassilo in eine Ecke.
"Sag. Mir. Was. Du. Siehst!" donnerte die Stimme der schwarzen Fee noch einmal und da tat sich vor Tassilo auf dem Glas ein Loch auf, durch das er ein helles Zimmer erkennen konnte, in dem drei kleine Bettchen standen. Darin schliefen drei Kinder tief und fest. Ein jedes in weiche Decken gehüllt.
Tassilo antwortete auf die Anweisung der schwarzen Fee und gab bekannt, was er sah.
Die Auftraggeberin schien zufrieden zu sein.
Nachdem der Junge geantwortet hatte, verschwand das Loch und zurück blieb das stechende Weiß der Glaswand.
"Hallo?" , rief Tassilo panisch und hämmerte mit den Fäusten gegen die undurchdringliche Wand.
"Was hast du mit mir vor?
Lass mich frei!"
Niemand antwortete und Tassilo hämmerte erneut gegen das Glas.
Mehrere Stunden vergingen, in denen der kleine Junge voller Hoffnung versuchte, die Mauer zu durchbrechen.
Doch irgendwann starb in ihm auch der letzte Rest der Hoffnung.
"Hilfe! Hilfe!" wimmerte er leise und sank auf den Glasboden.
Durchsichtige Tränen flossen über das Weiß.Am Boden zerstört, schritt eine junge Frau in Lumpen gekleidet, durch den Wald. Die Tränen an ihren Wangen waren getrocknet und hatten weiße salzige Streifen hinterlassen.
Langsam bewegte sie sich fort, langsamer als zuvor.
Ihre Zauberkraft und ihre Flügel hatte man ihr genommen.
Ihre Strafe sollte es sein, wie ein ganz normaler Mensch zu leben, sich mit den Füßen statt Flügeln fortzubewegen.
Doch noch mehr als der Verlust ihrer Flügel und der Fähigkeit, mit Tieren zu sprechen und sich in jedes beliebige ihrer Art zu verwandeln, schmerzte die braune Fee, was sie getan hatte.
Immer wieder spiegelte sich vor ihrem geistigen Auge die Versammlung der Feen:
Traurig hatten sie alle angesehen und die zinnoberrote Fee hatte gesagt:
"Es ist so schade, dass eine so Junge Fee wie du, die noch so viel vor sich hat, jetzt schon ihre Zauberkraft verliert!"
"Aber...aber!" , hatte die braune Fee erwidert und war in Tränen ausgebrochen.
"Ich habe es doch nicht mit Absicht getan! Ich wollte ihm doch nur helfen! Wir haben es sogar geschafft, den König zu befreien, aber dann... entdeckte die schwarze Fee Tassilos Pferd zwischen den Bäumen und... wollte es fangen!
Ich... ich konnte nichts tun!
Bitte glaubt mir!"
Mitleidig trat die ozeanblaue Fee vor. "Braune Fee, meine Schwester:
Es ist nicht so, dass wir dir nicht glauben würden, das tun wir...
jedoch gibt es klare Regeln in der Gemeinschaft der Feen:
Wir sind alle dazu verpflichtet, den Menschen mit unseren Gaben zu helfen! Wenn wir ihnen aber damit Schaden zufügen, auch wenn er nur versehentlich eintrat und ohne jede böse Absicht geschah, verlieren wir unsere Zauberkraft und sind gezwungen als normale Menschen zu leben.
Auch bei dir kann, so leid es mir tut, keine Ausnahme gemacht werden!"
Voll tiefem Bedauern hatte sie den Kopf gesenkt und zusammen mit der roten Fee die Arme über ihr ausgebreitet, um ihr langsam die Zauberkraft zu entziehen.
Nachdem es vollbracht gewesen war, waren die Feen verschwunden und hatten eine junge Frau einsam im Wald zurück gelassen. Völlig auf sich allein gestellt.Wohin sollte sie nun gehen?
In eines der drei Reiche konnte sie nicht gehen. Dort würde sie bestimmt jeder fragen, woher sie kam und wer sie war.
Das Beste würde sein, wenn sie im Wald blieb und mit den Tieren lebte.
Zwar würde sie versuchen müssen, mit ihnen ohne ihre Kraft kommunizieren, aber das war letztendlich besser als zu den Menschen zurück zu kehren.
Sie würden sie sowieso nur daran erinnern, was sie einmal getan hatte.
Still und leise zog sich die zerlumpte Gestalt ins Dickicht zurück.Ruhelos suchte Madame Pottille die Gänge des Schlosses nach ihrem kleinen Jungen ab. Nirgends war er zu finden. Und auch Philipp, das treue Pferd von Königin Belle war verschwunden. Wo könnten beide nur sein?
Leise betrat sie das Zimmer, in dem die Glasvitrine stand. Vor ihr stand die Königin. Das goldene Diadem auf ihren lockigen braunen Haaren funkelte. Belle's Gesicht jedoch funkelte nicht.
Unter ihren wunderschönen dunklen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet und ihr sonst so strahlender Ausdruck war ermattet.
Als Madame Pottille auf die zu trat, warf sich die Königin ohne Zögern in die Arme ihrer langjährigen Freundin und beide begannen zu weinen.
"Tassilo ist auch verschwunden, meine Königin!" murmelte Madame Pottille und blickte Belle aus tränennassen Augen an.
Die Königin sah ihrer Dienerin entsetzt in die Augen. Ihre Gesichtsfarbe veränderte sich, erbleichte.
"Ich habe das Gefühl, dass alles, wofür ich einst gekämpft habe, verschwindet: Mein Kind, mein Mann, mein Vater, Tassilo, mein treues Pferd und auch mein Kleiderschrank ist verschwunden!"
Ihr...Ihr bleibt doch hier bei mir, Madame?" Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und Madame Pottille wurde ganz bang.
"Belle, Ihr müsst Euch hinlegen." wisperte sie und legte eine Hand auf Belle's Stirn, welche fiebrig glänzte. Im nächsten Augenblick brach die Königin des Ostens zusammen.
"Oh Gott! Helft mir bitte! Die Königin! Hilfe!" schrie Madame Pottille laut. Sofort stürzten mehrere Diener, angeführt von Lumiere herbei.
"Meine Königin!" , brüllte er erschrocken. "Schnell, bringt sie in das königliche Gemach und holt warmes Wasser!"
Madame Pottille stand regungslos auf der Stelle.
"Madame Pottille, brüht Tee auf!" schuf Lumiere ihr an und eilte die Stufen der Wendeltreppe hinauf zum Schlafzimmer der Königin.
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Das Märchenkleid
FantasyLouise findet in ihrem Schrank ein geheimnisvolles gelbes Kleid. Sie ahnt nicht, dass dieses Kleid ihr Leben und das ihrer zwei Schwestern für immer verändern wird und sie eine Welt retten müssen, in der nicht alles wie im Märchen endet... Eine For...