Tassilos Freiheit

143 14 5
                                    

Ihre grünen Augen bohrten sich ungnädig in seine.

"Was sollen wir jetzt tun?"

fragte Jonathan nervös.
Ihm wurde das alles zu viel:
Die schwarze Fee, die weiße Fee; er, der Sohn Schneewittchens...

"Wir müssen warten, bis die Königskinder zurück kehren, wie es die Prophezeiung besagt."

Ruhig stand sie vor ihm und streckte ihm immer noch ihre Hand entgegen.

Jonathan starrte auf ihre Finger, ergriff sie jedoch nicht.

"Was ist....." ,

ihm versagte die Stimme.

"Was ist, wenn sich die Prophezeiung nie erfüllt und die schwarze Fee siegt?"

Energisch griff die Frau nun seine Hand und hob sein Kinn mit ihrer Hand ein Stück an, so dass er direkt in ihre grünen Augen blickte.

"Du MUSST daran glauben, Jonathan! Sonst ist alles verloren!
Und jetzt lass uns deinen kleinen Freund suchen."

Widerwillig ließ sich der Junge von ihr mitziehen.
Zu viele Fragen schwebten in seinem Kopf umher und sogleich schlich sich die Angst wie eine Katze zu ihnen und umklammerte sie mit eisigen Krallen.


Der kleine Zwerg rannte schnurstracks durch die Nacht, so schnell ihn seine kleinen Beinchen trugen. 
Die Zweige der Bäume verfingen sich in seinem dünnen Leibchen und schienen es ihm herunter reißen zu wollen.

Tränen voller Traurigkeit strömten über sein kleines Gesichtchen.
Immer weiter lief er, weiter und weiter, bis sich auf einmal aus dem Nichts ein riesenhaftes schwarzes Ungetüm vor ihm erhob.

Mit Entsetzen erkannte Seppl:
Er stand vor dem Schloss der schwarzen Fee, die ihn ohne mit der Wimper zu zucken, töten würde...

Tassilo hockte zusammen gekauert in seinem Käfig.
Wie lange konnte er das noch aushalten?

Ein schepperndes Lachen ertönte und Tassilo zuckte erschrocken zusammen.
Da war sie wieder und er musste erneut ihren Auftrag ausführen...

Jedes Mal fragte er sich, wer das Mädchen war, zu dem er sprechen musste und jedes Mal zerschnitt es ihm das Herz, wenn er sah, wie seine Worte  sie in den Bann der schwarzen Fee zogen und verängstigten.

Er schloss erschöpft die Augen und als er sie öffnete, sah er wieder das Mädchen vor sich.
Und er setzte seinen Auftrag fort...

Alina stand vor dem Spiegel im Badezimmer.
Gebannt hefteten sich ihre Augen auf den Mann, der zu ihr sprach.

"Du musst Louise töten, Alina!" ,
befahl er ihr eindringlich.
"Töte sie, bevor es zu spät ist!"

Zum zweiten Mal ergriff eine unsichtbare Macht von ihr Besitz.
Alinas Hand griff apatisch nach der Rasierklinge ihres Großvaters.

Langsam bewegte sie sich aus dem Bad.


Schwer atmend sank Tassilo zusammen.
Er konnte nicht glauben, was er soeben getan hatte:
Dieses Mädchen würde Prinzessin Louise töten und er hatte dazu beigetragen!

"Nein!!!" ,

schrie er voller Wut und Verzweiflung.

"Wie kannst du mir das nur antun?
Wie kannst du so etwas tun?"

Im nächsten Augenblick hörte er die schwarze Fee lachen und dieses Lachen flößte ihm mehr Angst ein, als bisher.

"Ich lasse dich frei, Tassilo!
Warte nur ab!
Du wirst frei sein."

Tassilo riss erstaunt die Augen auf.
Er konnte nicht glauben, was sie gesagt hatte!
Er sprang auf.
Ein Funken Hoffnung erglimmte in seinem Inneren.

Da breitete sich mit einem Mal etwas Dunkles vor ihm aus.
Es verdichtete sich mit jeder Sekunde und bedeckte in kurzer Zeit den gesamten Glaskäfig.

Panisch sah Tassilo um sich.
Sein Atem und Herzschlag beschleunigten sich um das gefühlt Vierfache.

"Wo bist du?
Was hast du getan?
Lass mich frei!
Du kannst mich doch nicht hier im Dunkeln lassen!"

Nicht mehr wissend und ohne jegliche Orientierung raste er los und brach mit einem fürchterlichen Krachen mitten durch eine der Glaswände.

Es klirrte und die berstenden Splitter flogen in alle Himmelsrichtungen.
Unzählige Scherben schnitten in Tassilos Körper.
Die zugleich einsetzenden Schmerzen stachen und raubten ihm den Atem.

Die Dunkelheit die den Glaskäfig überzogen hatte, ballte sich zusammen und floss mit den Scherben durch die Wunden in Tassilos Blut.

Je mehr schwarze Magie sich seiner bemächtigte, desto mehr wichen die brennenden Schmerzen einer unbändigen Kraft, die Tassilos Gestalt haltlos in die Höhe wachsen ließ.

Einige Sekunden später riss das Dach des dunklen Palastes mit einem Bersten entzwei und eine riesige schwarze Echse erklomm mit scharfen Klauen die Spitze eines Turmes.

Unter ihm stand lächelnd die schwarze Fee und hielt eine Hand befehlend in die Höhe.

"Ja, Tassilo jetzt gehörst du mir!"

schrie sie triumphierend und lachte siegessicher.


Dem kleinen Zwerg vor dem Palast rutschte das Herz in die Hose und er suchte schleunigst Zuflucht hinter einem nahen Baum.

Mit großen Augen und Herzklopfen, so laut, dass er fürchtete, der Drache würde es hören und ihn womöglich gleich verspeisen, beobachtete er die schwarze Bestie, die schnaubend und fauchend auf dem Turm saß.

Ihre messerscharfen Krallen bohrten sich in die Ziegel des Turmes und versuchten, das immense Gewicht des massigen Körpers zu halten.

Vor Schreck trat Seppl einen Schritt zurück.
Knackend brach ein Zweig.
Der Zwerg erstarrte.

Mit Todesangst blickte Seppl in die rot glühenden Augen des Untiers, das ihn jetzt fauchend fixierte.

Schwarzer Rauch quoll aus seinen zuckenden Nüstern...


Das MärchenkleidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt