Der Weg des Einhorns

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Dunkle Wolken zogen am Nachthimmel vorüber. Bald würden sie sich zu einem drohenden Unwetter zusammen ballen. Keiner hörte das Einhorn, das mit seinem Bündel im Maul die Wiesen entlang trabte. Nervös sah es zum Himmel auf und fiel in einen leichten Galopp; bemüht, das Kind trotz des schnellen Laufs ruhig zu halten. Bald kamen sieben Berge in Sicht, die so dunkel waren, dass sie sich mit ihrer Schwärze von dem ohnehin schon schwarzen Nachthimmel abhoben. Das Fabeltier preschte die engen Felswege hinauf, zwängte sich zwischen scharfkantigen Felsen hindurch und balancierte vorsichtig auf schmalen Felsplateaus entlang, bis es auf der anderen Seite der Berge ankam. Es ließ seinen Blick weit schweifen und entdeckte in einiger Entfernung am Waldrand ein kleines Häuschen. Rauch quoll aus dem Schornstein, es musste bewohnt sein. Erleichtert trabte das Einhorn darauf zu. Vor der kleinen Holztür, die dem Tier knapp bis zum Halsansatz reichte, legte es das Baby behutsam auf dem Boden ab und blies es durch seine Nüstern mit warmer Luft an, damit es nicht fror. Dann klopfte es mit seinem langen geschnörkelten Horn hörbar an die winzige Haustür. Ein leises Murren ertönte: "Komm ja schon!" Die Tür öffnete sich, ein kleiner Zwerg erschien im Eingang. Er trug einen blau geblümten Pyjama und eine dicke Brille auf der rötlichen Knollennase. "Was will jemand, mitten in der ..." Als er das Einhorn wahrnahm, das vor ihm stand, verschluckte er sich und hustete so laut, dass die ganze Hütte wackelte. Keine ganze Minute später, lugten die sechs anderen Zwerge verschlafen hinter ihm hervor. "Chef, was ist denn los?" fragte ein kleiner Zwerg, der auf den Namen Seppl hörte. "Da schau, Seppl!" , erwiderte Chef, passenderweise der Anführer der Zwerge, der alles unter Kontrolle behielt. Seppl bestaunte das Einhorn mit offenem Mund. "Da.. da draußen steht ein Einhorn!" rief er überrascht aus und rieb sich die Augen. "Du träumst nicht Seppl, da steht wirklich eins!" flüsterte Pimpel ihm zu und legte dem Zwerg eine Hand auf die Schulter. "Was will es denn?" , fragte Brummbär, der immer zum Meckern aufgelegt war und keine Sache ausließ, über die er sich aufregen konnte. "Habt ihr es nicht gefragt?" Das Einhorn ließ ihnen keine Zeit, zu fragen. Sanft nahm es das Kind am Stoffband wieder hoch und legte es Chef in die Arme, der es verdattert festhielt. "Was bringst du uns denn? Ein Kind? Was sollen wir mit einem Kind? Wem gehört es überhaupt? Wo sind seine Eltern?" Das Einhorn berührte Chef's Stirn mit dem geschnörkelten Horn und einen Augenblick später, galoppierte es über die Wiesen davon. Chef beantwortete die Frage, die in den Köpfen herum ging, hörbar für alle: "Es ist ein Junge, er heißt Jonathan. Wo er her kommt, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass wir ihn zu uns nehmen und gut auf ihn Acht geben müssen. Er ist in großer Gefahr, doch bei uns ist er sicher. Und erst wenn die Zeit gekommen ist, kann er uns wieder verlassen."

Zu gleicher Zeit flog die moosgrüne Fee über die nächtlichen Wälder ihrem Ziel entgegen: dem mächtigen Schloss des Südens. Ihre zierliche Gestalt verschmolz vorteilhaft mit der Dunkelheit, so dass sie nur schwierig zu erkannt werden konnte. Sanft landete sie auf einem der vier Kuppel-Türme und hangelte sich gekonnt an den übrigen Dornenhecken hinunter, deren blühende magentarote Rosen sich bei anbrechender Dunkelheit geschlossen hatten. Diese Hecken zeugten immer noch still von Dornröschens hundertjährigem Schlaf, den ihr die schwarze Fee in Form eines Fluchs auferlegt hatte. Damals waren sie wie eine nicht aufzuhaltende Flut die Außenmauern des Schlosses hinaufgewachsen und hatten erst aufgehört zu wachsen als der junge Prinz Philipp sich mit seinem Schwert durch das Gestrüpp gerungen und Aurora wachgeküsst hatte.
In der Höhe eines der vier Turmfenster hielt die moosgrüne Fee und blickte mit ihren wachsamen grünen Augen in das Innere des Turmzimmers. Langsam schaukelte die Wiege mit dem Königskind hin und her. Eine Amme saß auf dem Stuhl daneben. Ihr Kopf war zur Seite gesunken, sie schlief. Die Fee schnippte leise und schickte die Amme noch tiefer in das Reich der Träume. Dann drehte sie ihre rechte Hand einmal im Kreis. Grüner Glitzer schwebte in der Luft. Mit einem leisen Klicken öffnete sich der Riegel des Fensters und die moosgrüne Fee kletterte leise hinein. Lächelnd betrachtete sie das kleine blond gelockte Kind in der Wiege. Ihre Hände griffen behutsam hinein und hoben das Baby heraus, das im Schlaf gähnte und sich daraufhin verträumt an sie schmiegte. Sie strich mit den Fingerspitzen über das blonde Haar. Ihre Flügel begannen zu flattern und sie flog durch das geöffnete Fenster nach draußen. Das Baby fest im Arm haltend, kehrte sie zurück.

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