Der Spalt in der Mauer

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Es musste kurz vor Mitternacht sein. Mit einem Mal wachte Martha schweißgebadet und unter heftigen Schmerzen auf. Ihre Augen wanderten zum Kind, das in einiger Entfernung friedlich schlummerte. Plötzlich vernahm Martha ein eigenartiges Scharren. Unter Schmerzen richtete sie sich auf und versuchte, durch die Ritzen der Mauer hinaus zu sehen, doch es war zwecklos: die Ritzen hatte man mit Pech verklebt, um den Gefangenen jede Möglichkeit zu nehmen, das Tageslicht zu sehen. Fast blind wegen der tiefen Dunkelheit, tastete Martha plötzlich voller Hoffnung die Steine ab. Hier musste doch irgendwo ein Stein locker sein! Das gab es ja immer wieder, dass sich ein älterer Brocken löste... Sekunden später fand sie zu ihrer großen Erleichterung, was sie gesucht hatte: Ein etwas größerer Stein wackelte bedenklich im Mauerwerk. Langsam und bemüht, keinen Lärm zu machen, rüttelte Martha an dem Stein, um ihn vom Pech zu lösen. Er bewegte sich. Sie wackelte ihn ein kleines bisschen hin und her und nach ein paar Minuten, die ihr wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, löste sich der Stein heraus. Diesen legte sie sorgsam auf den mit Stroh bedeckten Boden. Jetzt konnte sie einen Blick hinaus werfen. Die Nacht war klar, leuchtende Sterne strahlten zusammen mit dem hellen Vollmond um die Wette. Nur ein paar dunkle Wolken zogen an ihnen vorbei. Das Gras schien ungefähr auf der Höhe ihrer Nase zu sein. Martha erkannte die feucht glänzenden Halme, auf denen sich spiegelnde Tautropfen gesammelt hatten. Eine Sekunde später ertönte ein Schnauben und eine weiße Pferdenase schob sich vor das Loch. Martha schreckte zurück und stieß mit dem Fuß gegen den Stein, der sofort lautstark in die Ecke polterte. Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen kauerte sie sich neben das Kind, das von dem unerwarteten Lärm geweckt worden war und nun leise anfing, zu weinen. "Nein, bitte hör doch auf! Bitte! Das war nur ein Stein! Ich bin zwar nicht deine echte Mutter, aber ich beschütze dich! Du brauchst keine Angst zu haben!" Gleich beruhigte sich das Baby. Martha erwartete, im nächsten Moment den Wächter um die Ecke schlürfen zu hören, doch nichts tat sich. Es blieb beunruhigend ruhig. Als sie ganz sicher war, dass er wirklich nicht kam, richtete sich Martha erneut auf und kroch an das Loch heran. War es möglich? Hatte sie wirklich eine Pferdenase gesehen oder am Ende sogar ein... Nein, das könnte nicht sein! Oder etwa doch? Erneut blickte sie durch die ovale Öffnung nach draußen. Wieder ertönte ein Schnauben und nun erkannte Martha etwas entfernt, die Shilouette eines weißen Pferdes. Nein, es war kein Pferd: Auf seiner Stirn prangte ein langes silbernes Horn, das im Mondlicht geheimnisvoll funkelte. Martha blieb für einen Moment der Atem weg und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Ein lebendiges Einhorn, direkt vor dem Schloss der schwarzen Fee! Was hatte es hier zu suchen, hier, wo die schwarze Magie herrschte? Jetzt schüttelte das sagenumwobene Wesen seine seidene Mähne und sein Kopf wandte sich Martha zu. Langsam trat es näher. Martha wagte nicht, sich zu bewegen. Das Tier blieb kurz vor dem Loch stehen. Es beugte seinen edel geformten Kopf herab, die Ohren zuckten. Seine feucht schimmernden schwarzen Augen blickten Martha vertrauensvoll entgegen und die Kranke Frau wusste nun, dass ihre Begegnung mit dem magischen Tier kein Zufall war: Hier ging es um etwas größeres, etwas das sie sich nicht vorstellen konnte. Das Einhorn senkte seinen Kopf weiter hinab, schob sein Horn durch die Öffnung und berührte damit vorsichtig Marthas Stirn. Ein Bild trat in ihren Kopf, in dem sie zwei Stoffstreifen von der Decke des Kindes herunter riss, sie zusammen knotete und locker um den Bauch des Babys band. Dann schob sie das Kind vorsichtig durch die Öffnung. Das Einhorn nahm das Stoffband, mit dem das Kind umwickelt war, sanft ins Maul und trabte zwischen den angrenzenden Bäumen davon. "Du weißt anscheinend genau, was zu tun ist!" , flüsterte Martha ehrfürchtig. "Ich werde genau das ausführen, was du mir aufgetragen hast."
Gekonnt riss sie zwei gleiche Streifen von der Decke und band sie locker um den Körper des Kindes. Dann schob sie es vorsichtig durch die Öffnung. "Du weißt doch, was du tust? Es könnte sich bei meiner Krankheit angesteckt haben!" äußerte sie, nun doch von Angst ergriffen. Gleich darauf wurde sie mit wohliger Wärme erfüllt. Das Tier erwiderte ihren Blick ruhig. Dann beugte es sein majestätisches Haupt und trabte leise zwischen den Bäumen davon. Martha sah ihm lange nach.

"Wo ist dein Kind?" giftete die schwarze Fee eine Weile später als sie nach ihrer Gefangenen sah. Martha lächelte selig. Vor sich sah sie ein gleißend helles Licht und schloss müde die Augen. "Du kannst mich töten." , antwortete sie lächelnd. "Aber ich werde dir nicht sagen, wo es ist." Dann schloss sie ihre Augen und der Tod befreite sie von Angst, Schmerz und Leid. Die schwarze Fee schäumte vor Wut und schickte mehrere Trupps Soldaten aus, um den Geflohenen zu suchen.

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