Der Riss verschwindet

462 31 2
                                    

Der Tag verging und als alle anfallenden Arbeiten erledigt waren, zog sich Melina in den Keller, genauer gesagt: in ihr Bügelkämmerchen zurück und legte das gerissene Kleid vor sich auf den Tisch. Im Schein der Lampe, die auf dem Tisch stand, schimmerte der gelbe Stoff geheimnisvoll. Melinas Hand griff in die Schublade mit den vielen Nadeln und Fäden. Eine Weile suchte sie darin herum, bis sie merkte, dass sich das, was sie suchte, nicht in der Schublade befand. Sie erhob sich und holte einen kleinen Schlüssel hervor, der hinter der Tür hing. Damit schloss sie ein kleines Fach auf, das sich hinter der Schublade verbarg. Etwas goldenes schimmerte daraus hervor. Vorsichtig griff Melina hinein und holte eine Spule heraus, um die sich ein glänzender goldener Faden wickelte. Wie von selbst fädelten ihre Hände ein Stück des goldenen Fadens in eine passende Nadel und machten sich daran, den Riss zu vernähen. Gerade als sie den letzten Stich beendete und ihn festzog, verschwand die Naht und der reparierte Riss verschwand. Zurück blieb nichts. Nichts, das darauf hindeutete, dass hier vor kurzem etwas gerissen war. Wie in Trance stand Melina auf und holte ein verstaubtes Buch aus dem Bücherregal hervor. "Märchen der Gebrüder Grimm" stand auf dem Buchdeckel. Fieberhaft suchten ihre Hände nach einem bestimmten Märchen und sie begann, zu lesen...

Viele Jahre zuvor in einer anderen Welt...

Sanft strich die Mutter über das Köpfchen des kleinen Bündels, das in ihren Armen lag. Die Haut war noch ganz weich. Liebevoll berührten ihre Lippen die Stirn ihres Kindes. Es quiekte froh und fasste mit seinen kleinen Fingern eine Strähne ihres lockigen braunen Haares. Da öffnete sich die Tür des Zimmers und ein prächtig gekleideter Mann trat ein. Er nahm seine Krone ab und legte sie beiseite. "Belle." begrüßte er die Königin leise, um sein Töchterchen nicht aufzuwecken, das gerade die Augen schloss - die kleinen Finger fest um die Hand der Mutter geklammert. Die Angesprochene drehte sich herum und lächelte. "Adam." flüsterte sie leise und eilte, so schnell es das Kind in ihren Armen zuließ, zu ihm. Sie küssten sich innig. Adam sah zuerst auf Belle, dann auf sein Kind. "Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich und unsere süße kleine Tochter zu haben!" wisperte er gerührt und küsste seine Frau noch einmal. Belle strahlte und strich ihm mit der freien Hand über die Wange. Dann ging sie zu dem kleinen Bettchen, das auf der rechten Seite des Zimmers, an einem der drei großen Fenster stand und legte ihre Tochter behutsam in die weichen Decken. Es schlummerte selig, den winzigen Daumen fest in den Mund gesteckt und nuckelte daran. Adam trat näher zu Belle und legte von hinten seine Arme um sie. Belle schmiegte ihren Kopf an seine Brust. So standen sie eine Zeit lang und beobachteten das schlafende Kind, bis Madame Pottille herein kam und ankündigte, dass der nachmittägliche Tee bereit sei. Das Königspaar warf noch einen letzten Blick auf seine Tochter, dann schritt es hinaus. Im hinteren Teil des Zimmers blühte eine Rose in einer runden Glasvitrine. Ihre roten Blätter kannten keine Kälte, keinen Frost. Sie blühte immer weiter - brauchte keinen Regen, keine Sonne, denn was ihr Kraft zum Wachsen verlieh war die Liebe: Die Liebe zwischen Belle und Adam.


Als der Tag zur Nacht wurde, schritt die weiße Fee mühsam durch den dunklen Wald. In jeder Faser ihres Körpers spürte sie das stete Schwinden ihrer Kräfte. Auch ihre Tritte wurden mit jedem Schritt merklich kürzer. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto zögerlicher wurde sie: Wie würde er auf sie reagieren? Würde er ihr helfen? Nach dem furchtbaren Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte? Der in ihm womöglich immer noch loderte und vielleicht nie erlosch? Sie seufzte tief und schloss die Augen. Bilder der Vergangenheit tauchten in ihrem Kopf auf und sie schüttelte ihn, um die Erinnerungen zu verbannen. Zwei Tränen rannen über ihre hellen Wangen und sie beschleunigte ihre Schritte.
Schließlich tauchte die altbekannte Lichtung vor ihr auf. Sie atmete tief ein und aus und versuchte den aufsteigenden Kloß in ihrem Hals zu ignorieren. Eine gebückte Gestalt saß am knisternden Lagerfeuer, dessen roter Schein an den nachtschwarzen Tannen umher wanderte. Langsam, wie ein Tier, das sich anschleicht, trat sie von hinten an das Feuer heran und setzte sich wortlos auf einen mit Moos bedeckten Baumstamm. Nichts bewegte sich in dem Gesicht des alten Männleins, das sich dem Feuer entgegen reckte. Noch immer trug es das lederne Wams, das mit einem Gürtel um seinen Leib geschnallt war, spitze grüne Schuhe und ein ebensolches Hütchen. Nur sein brauner Bart war mit der Zeit erbleicht und weiß geworden. "Rumpelstilzchen, bitte! Ich brauche deine Hilfe!" , flüsterte sie leise. "Ich....ich werde bald sterben." Seine kohlrabenschwarzen Augen funkelten sie erbost an. "Verschwinde!" fauchte er leise. Die weiße Fee rührte sich nicht. Ungläubig starrte sie das Männlein, das sich nun erhob und schwarzen Rauch aus seinen Händen Quellen ließ. Es war die Reaktion, die sie erwartet hatte, aber insgeheim hatte sie doch gehofft, er würde nach all der Zeit anders reagieren. "Bitte Rumpelstilzchen! Ich brauche deine Hilfe!" bat sie erneut mit zitternder Stimme. Der Rauch verdichtete sich. "Was du brauchst, kümmert mich nicht!" knurrte das Männlein. "Bitte hör mich an!" , rief die weiße mit einem letzten Fünkchen Hoffnung. "Nur dieses eine Mal! Ist denn der alte Zauber gänzlich entschwunden, der uns einst verbunden hat?" Diese Frage erschütterte Rumpelstilzchen und für eine Sekunde entgleiste seine Wut und machte einer tiefen Traurigkeit Platz. Doch dann fing er sich wieder und rief: "Die Schuld dafür liegt ganz und gar bei Dir, Tochter einer Müllerin!"

Fortsetzung folgt...

Das MärchenkleidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt