Porträts und Pfannkuchen

828 49 23
                                    

"Alina komm mal schnell her!"
rief Louise die Treppe hinunter. Nichts rührte sich.
Da vernahm Louise ein leises Summen.
"Ali?" fragte sie laut.
"Ich bin hier!" tönte die Stimme ihrer Schwester aus dem Bad.
"Ich komme rein!" kündigte Louise an und öffnete die Tür zum Bad. In der Badewanne lag ihre Schwester in einem Meer aus Schokolade.
Nur ihr Kopf ragte aus dem braunen Pflegebad heraus. Alinas glatte schwarze Haare reichten ihr bis zum Kinn und ihre roten Augen funkelten schelmisch. Ihre Schwester erinnerte Louise immer an "Alice" aus den Twilight-Filmen.
"Es riecht wirklich wie Schokolade!" , staunte sie.
"Hast du schon probiert, ob es auch so schmeckt?"
Ein Grinsen umspielte ihre Lippen. "Nein, du Leuchte! Es weiß doch jeder, dass man Badeschokolade nicht essen kann!" , keckerte Alina.
"Also jetzt sag schon: Was ist der Grund, mich mitten in meinem Schönheitsbad zu stören?"
Ihre Augenbrauen zogen sich in gespielter Verärgerung in die Höhe. "Schau mal, was ich gefunden habe!" , Louise zog das gelbe Kleid hinter ihrem Rücken hervor.
"Es gehört nicht zufällig dir, oder?" Einen Moment lang herrschte Stille. "Oh. Mein. Gott. Wo hast du das denn her?" flüsterte Alina tonlos und starrte ehrfürchtig auf das Kleid. "Ich...ich habe es im Schrank gefunden." , antwortete Louise unsicher. "Wieso, was ist?" "Es....ist...so... wunderschön!" murmelte Alina. Dann klärte sich ihr Gesichtsausdruck, wurde wieder normal.
"Du musst es unbedingt anprobieren! Aber Halt! Was ist denn das?" Vorwurfsvoll deutete sie mit dem Finger auf den Riss in der Taille. Schuldbewusst verzog Louise das Gesicht.
"Ich wollte es aus dem Schrank raus ziehen....es hat sich irgendwo eingeklemmt und ich hab... gezogen." "Ach Louise!" , seufzte Alina und ließ sich mit einem wohligen Seufzer noch tiefer in die Schokolade gleiten. "Vor dir ist aber auch nichts sicher!
Frag mal Oma, ob sie es nähen kann!"

Aus der Küche, in der Louise Großmutter Melina gerade das Mittagessen vorbereitete, duftete es verführerisch nach frischen Pfannkuchen. Louise stand einen Moment lang in der Tür und beobachtete ihre Oma, wie sie sich durch die Hitze entstandene Schweißperlen von der Stirn wischte und gerade emsig den bestimmt fünfundzwanzigsten Eierkuchen wendete und mit Hilfe des Pfannenwenders auf den Stapel der anderen vierundzwanzig gleiten ließ. "Meine Oma, die Pfannkuchen-Bäckerin!" sagte Louise liebevoll und umarmte Melina von hinten. "Ach, das ist ja eine meiner drei Lieblingsenkelinnen!" , antwortete die Angesprochene daraufhin mit einem Lächeln und erwiderte die Umarmung. "Weißt du zufällig, wo sich dein Großvater und deine zwei Schwestern aufhalten?" Während Louise mehrere Teller und Besteck aus dem Küchenschrank nahm und den Tisch deckte, berichtete sie ihr, dass Alina in der Badewanne und ihre andere Schwester Klara, bei ihrem Freund Tobias sei. Wo sich ihr Großvater aufhielt, wüsste sie jedoch nicht. "Bestimmt ist er wieder im Keller und malt!" stöhnte Melina genervt und rollte mit den Augen. Sie mochte es nicht, wenn niemand erschien, sobald das Essen fertig war. "Ich schau mal nach." sagte Louise und lief die Kellertreppe hinunter. Hier hatte sich ihr Großvater ein kleines Atelier eingerichtet, in dem er die wundervollsten Bilder malte. Und tatsächlich saß ihr Großvater auf seinem Schemel und war gerade dabei, sein Kunstwerk mit ein paar letzten geübten Pinselstrichen zu beenden. "Na, wie findest du es, Louise?" fragte er leise und wieder einmal musste sich seine Enkelin wundern. Ihr Großvater wusste immer genau, wer hinter ihm stand, auch wenn er denjenigen nicht sah. "Es ist zauberhaft!" murmelte Louise und bestaunte ein Portrait Melinas, dessen Farben so satt leuchteten als hätte Maurice in jeder ein kleines Stückchen Sonne eingefangen. "Darüber wird sie sich bestimmt freuen. Übrigens: Das Essen ist fertig!" "Ich komme." antwortete der alte Maler, legte den Pinsel beiseite und erhob sich.

Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatten, bestrichen Alina und Louise ihre Pfannkuchen genüsslich mit Aprikosenmarmelade. Tadelnd sah Melina auf ihre zwei Enkelinnen. "Wenn ihr weiter so dick bestreicht, haben wir bald keine Marmelade mehr!" Maurice sah hinter der Zeitung auf, die er beim Essen immer las und fragte: "Wo ist eigentlich Klara?" "Bei ihrem Freund." antworteten Alina und Louise gleichzeitig. "Der ist doch nicht gut für das Mädchen!" , tat Melina ihre Meinung kund. "Ich habe kein gutes Gefühl bei dem Jungen. Sie sollte ihn endlich in den Wind schießen!" Ihr Gefühl, das sie schon länger mit sich herum trug, schien sie nicht zu täuschen: Eine Sekunde später hörten alle die Haustür ins Schloss fallen. Gleich darauf schlich Klara und Zimmer. Ihre weißblonden Wallerlocken hingen ihr wirr ins Gesicht und ihre ozeanblauen Augen, von dichten schwarzen Wimpern umrandet, liefen über vor Tränen. Wortlos setzte sie sich an den gedeckten Tisch. Louise seufzte und musterte ihre hübsche Schwester besorgt. Schweigend reichte sie ihr einen Pfannkuchen und die Marmelade. Wie ein Scheunendrescher verputzte Klara in Rekordzeit fünf Pfannkuchen. Dann räumte sie ihren Teller in die Spülmaschine und verschwand nach oben. "Sie haben sich schon wieder gestritten, oder?" fragte der Großvater in die Runde und die anderen drei nickten.

Das MärchenkleidWo Geschichten leben. Entdecke jetzt