Gerade hatte die weiße Fee Maurice in einen Schlafzauber versetzt und mit Rumpelstilzchens Hilfe in den großen Schrank gesetzt. Die drei Säuglinge lagen schlafend auf dem Schoß des alten Mannes. Schweren Herzens besah sie die vier Menschen, deren Schicksal sich nun drastisch ändern würde. "Wie kann ich nur so etwas tun?" fragte sie sich still und schluckte schwer. Eine Träne rann über ihre Wange. Kaum spürbar berührte Rumpelstilzchen ihre Hand mit seinen Fingern. Dann öffnete sich die Tür mit einem lauten Donnerschlag. Draußen tobte ein bedrohliches Unwetter. Helle Blitze zuckten in unregelmäßigen Abständen über den dunklen Himmel. Im nächsten Moment erhellte ein Blitz die Gestalt der schwarzen Fee, die plötzlich wie aus dem Nichts unheilverkündend in der Tür stand. "Ach, wen treffe ich denn mitten in der Nacht hier so mutterseelenallein im dunklen Wald?" kicherte sie boshaft. Ihre unheimlichen roten Augen fixierten den Schrank hinter Rumpelstilzchen, der sie erschrocken musterte. "Einen schönen Schrank habt ihr da. Wem der wohl gehört?" fragte sie schelmisch weiter und trat einen Schritt darauf zu. "Am besten, Ihr verschwindet!" , zischte Rumpelstilzchen warnend und schob sich wieder vor die weiße Fee. "Es gibt für Euch hier nichts zu tun!" Als hörte sie nicht richtig, legte die Angesprochene ihren Kopf schief. Ihre lackschwarzen Haare fielen zur Seite und die roten Rubine auf dem Diadem glitzerten wie rote Blutstropfen. Ihre ebenso roten Augen bohrten sich in das Männchen, das sich sofort vor Schmerzen krümmte. Doch dann nahm Rumpelstilzchen all seinen Mut zusammen und feuerte aus seinen Händen aus denen schwarzer Rauch aufstieg, einen rot glühenden Feuerball auf die Fee ab. Die Zeit des Ablenkungsmanövers nutzend, drückte er der weißen Fee die Spule mit dem Goldfaden in die Hand und schob sie schnell in den Schrank. Atemlos versiegelte er ihn mit einem Schutzzauber. Gleich darauf begann der Schrank sich zu drehen, gestärkt von der Magie, die nun in ihm steckte. Im gleichen Moment entfernte die schwarze Fee den Feuerball und stieß einen wütenden Schrei aus. Ihre Hand schnellte nach oben und formte eine große spitze Hutnadel, die sie wie einen Pfeil in die Richtung ihres Widersachers abschoss. Das kleine Männlein versuchte sich zu ducken, aber es war zu spät: Die lange Nadel bohrte sich tief in sein Herz. Rumpelstilzchen sank nach Luft schnappend zusammen. Ihm war als hörte er Melinas Stimme, die nach ihm schrie und er sah das blonde Mädchen, das auf ihn zu lief. Das Mädchen, das sie gewesen war, bevor sie sich zur weißen Fee verwandelte. Das Mädchen, das er geliebt hatte und für das er jetzt starb.
Fassungslos starrte die Amme in das leere Bettchen des Königskindes. "Oh Nein!" , stammelte sie. "Nein! Wo ist er nur hin?" Sorgenfalten bildeten sich auf der schweißigen Stirn der älteren Frau, die nun panisch alle Ecken des Zimmers absuchte. Als die ersten Sonnenstrahlen durch die schweren roten Vorhänge drangen, wischte sie sich mit der Hand über das Gesicht. Hilflos lief sie das Zimmer hinaus und den breiten Gang entlang, an dem mehrere Sachen positioniert waren. Vor einem jüngeren der Männer blieb sie erschöpft stehen. Zittrig suchte ihre Hand an der Wand Halt. "Nanu Anna, was ist denn los? Ist etwas mit seiner Hoheit Prinz Jonathan?" Anna nickte und wie auf Befehl stürzten ihr verzweifelte Tränen über die Wangen. "Er ist weg, Martin! Das Kind ist weg! Mein kleiner Prinz ist weg! Verschwunden!" Martin riss erschrocken die Augen auf. "Was?! Er ist weg? Meinst du, man hat ihn entführt?" Anna blickte ihn aus nassen Augen bestürzt an. "Entführt? Wer sollte denn einen kleinen Jungen entführen? Und wie? Es war doch alles verschlossen!" Martin begegnete ihr mit entschlossenem Blick. "Wir müssen sofort den König und die Königin benachrichtigen!"
König James stand mit verschränkten Armen vor einem seiner Wachen und einer untröstlichen Amme, die sein und Königin Schneewittchens Kind beaufsichtigen sollte. "Was sagst du, Martin?" Seine Stimme klang ungewöhnlich scharf. Vorsichtig setzte Martin erneut an und sah zu Boden. "Euer Sohn, Prinz Jonathan, meine Majestät. Er....er ist verschwunden!" "Was?" rief der König des Nordens ungläubig und eilte wie von Sinnen in das Zimmer, in dem die leere Wiege seines Kindes stand. "Wie...wie ist das möglich?!" herrschte er Anna wutentbrannt an, die hinter ihm im Laufschritt den Raum betrat.
Anna sah ihren König eine Sekunde lang sprachlos an. Sie wusste doch auch nicht, wie es passiert war! Dann fing sie fürchterlich an, zu weinen. Die Königin mit den blutroten Lippen, der schneeweißen Haut und den ebenholzschwarzen Haaren, sagte nichts. In ihren Augen sammelten sich stumme Tränen, während sie die Wiege nach einer Spur ihres Kindes absuchte. Als sie das haltlose Wimmern der Amme vernahm, eilte sie zu ihr und nahm sie liebevoll in die Arme. "Was ist passiert, Anna?" flüsterte sie in das ergrauende Haar ihrer Dienerin. Anna beruhigte sich nach und nach, wischte ihre Tränen mit dem Handrücken ab und erzählte mit heiserer Stimme: "Ich....ich weiß nicht...gestern Abend....es war alles wie sonst. Ich sang dem kleinen Prinzen ein Schlaflied vor und wartete, bis er eingeschlafen war. Danach saß ich die ganze Zeit auf meinem Stuhl und rührte mich nicht von der Stelle." "Bist du wirklich die ganze Nacht wach geblieben?" fragte der König sie und sah sie nun direkt an. "Nein, am frühen Morgen muss ich wohl eingeschlafen sein und als ich... , Ein neuer Kloß bildete sich in ihrer Kehle. "...als ich aufgewacht bin, ....war...er weg!" , Die Tränen übermannten sie erneut. "Es tut mir so leid, ich wollte doch nicht einschlafen! Hätte ich es nur nicht getan! Es tut mir so leid, bitte vergebt mir!" Schluchzend warf sie sich dem König zu Füßen. Ihr Körper bebte. Jame's Unterlippe zitterte verdächtig als er auf seine Dienerin hinab sah. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er im Sturmschritt das Zimmer.Eine Weile später betrat Schneewittchen den Thronsaal. Sie erblickte ihren Mann, der ruhelos auf und ab schritt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Die silberne Krone auf seinem braunen Haar schimmerte und stand im Einklang zu seinen grauen Augen, die angestrengt auf den Boden stierten. "James." rief Schneewittchen leise. Ertappt hielt der König in seinem Lauf inne und kam dann langsam auf seine Frau zu. Still umschloss er ihre kleinen Hände mit den seinen. "Ich muss mit dir reden." , sagte er ernst und sah sie besorgt an. "Ich denke, ich weiß, wer Jonathan entführt hat: Nur eine ist in der Lage, in verschlossene Räume zu gelangen: die schwarze Fee!"
DU LIEST GERADE
Das Märchenkleid
FantasyLouise findet in ihrem Schrank ein geheimnisvolles gelbes Kleid. Sie ahnt nicht, dass dieses Kleid ihr Leben und das ihrer zwei Schwestern für immer verändern wird und sie eine Welt retten müssen, in der nicht alles wie im Märchen endet... Eine For...