Tassilos Reise

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Die Königin stand am Fenster und starrte auf das leere Bettchen ihres Kindes. Vergebens strich sie mit einer Hand über die weiche Wolldecke als versuchte sie, noch etwas von der schläfrigen Wärme ihrer Tochter zu spüren. "Louise." flüsterte sie leise. "Wo bist du nur?"
Nachdem ihre Hand eine Zeit lang auf der Decke verharrt hatte, zog sie diese zurück und entfernte sich in die andere Seite des Zimmers.
Dort stand die Rose, die immer blühte - Tag und Nacht, Sommer und Winter, in guten und schlechten Zeiten. Vorsichtig als könnte es mit der sanftesten Berührung zerbrechen, berührte Belle das Glas und strich zaghaft mit der Fingerspitze über die glatte kühle Fläche. Die roten Blätter bewegten sich kaum sichtbar und je mehr Belle die Blume ansah, desto mehr zog diese sie in ihren Bann und verlieh ihr neue Kraft.
Lange stand Belle vor der Vitrine.
Als der Abend schließlich anbrach und die Sonne ihre letzten goldenen Strahlen durch den Raum schickte, erstrahlte die Rose in hellem Glanz.
"Meine Königin?" , rief Madame Pottille fragend und spähte durch den Spalt der großen Tür zu ihrer Herrin. "Das Abendessen ist angerichtet."
Die Dienerin griff sich wehleidig ans Herz. Ihre Herrin so leiden zu sehen, war ihr ein Gräuel und die stetige Abwesenheit des Königs bereitete auch ihr Kummer. Trotz seiner schroffen Art hatten den jungen König alle Schlossbewohner ins Herz geschlossen.
Belle schreckte auf und lief eilig zu Madame Pottille. "Ist gut, Madame. Ich komme gleich."
Madame Pottille verschwand in der Küche.
Belle warf noch einen letzten Blick auf die Rose. "Eines Tages wirst du zurück kommen, Adam. Und unser Kind wird ebenfalls zurück kehren. Daran glaube ich jetzt auch."

Tassilo kauerte hinter der Tür, die in den Speisesaal mündete und begutachtete seine Königin während der Mahlzeit genau. Ihr Appetit schien nicht groß zu sein und der Junge erkannte, dass sie seit dem Verschwinden ihres Kindes und der zusätzlichen Gefangenschaft des Königs bei der schwarzen Fee, sehr mager geworden war.
Seine Gedanken schweiften von der Königin ab, zu seinem Plan, der seit dem Verschwinden der Prinzessin in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte: Er wollte den König befreien!
Später als seine Mutter Madame Pottille und alle im Schloss schliefen, schlich sich Tassilo auf leisen Sohlen in die Küche und in die Vorratskammer. Hier wurden die Reste vom Vorabend gelagert. Rasch griff er nach einem großen Stück von gebratenem Huhn, ein paar Scheiben Brot und zwei Äpfeln. Den gesamten Proviant verstaute er in einem Lederbeutel.
Anschließend lief er hinaus an den Brunnen und im Schlosshof und tauchte seine leere Feldflasche in das klare Wasser.
Aufgepackt mit dem Wasser und den Vorräten schlich er nun in den Stall. Ein paar Pferde wieherten zur Begrüßung, doch er legte warnend einen Finger an die Lippen und sie verstummten auf der Stelle.
Neugierig schoben sie ihre Nasen über die Boxentüren.
"Ich habe jetzt leider keine Zeit für euch!" murmelte er entschuldigend und lief zur letzten Box. Ein weißer Hengst streckte seinen edlen Kopf über die Tür und sah ihn erstaunt an. "Philipp, ich brauche deine Hilfe!"  flüsterte Tassilo, während er zu dem Pferd in die Box trat. Er hob den schweren Sattel vom Haken an der Wand und das daneben hängende Zaumzeug und sattelte und zäumte das Tier. Philipp ließ alles willig über sich ergehen und folgte dem Jungen danach hinaus auf den Hof und einen Schleichweg entlang, der aus dem Schloss hinaus führte.
Endlich hielten sie auf einer Wiese hinter den gewaltigen Türmen und Tassilo nahm dem Pferd die Säcke ab, die er seinem Reittier um die Füße gebunden hatte. Sie hatten ihren Zweck erfüllt, das Klackern der Hufe im Schlosshof verhindert.
Dann saß Tassilo auf das prächtige weiße Pferd auf.
"Mein Freund, wir müssen zum Schloss der schwarzen Fee." wisperte er ihm ins Ohr und gab dem Hengst die Zügel frei, der sofort los preschte.
Ihr Weg führte im Teufelsgalopp über die üppige grüne Wiese in einen dunklen Wald hinein. Tassilo kauerte sich tief über den erhitzten Hals seines Pferdes, um den herabhängenden Ästen und Zweigen auszuweichen.
Wie ein weißer Pfeil flog der Hengst durch die Nacht.
Plötzlich wurden die Bäume weniger und eine geheimnisvolle Lichtung tat sich vor ihnen auf. Philipp stemmte die Vorderhufe in den Boden und bremste so aprupt, dass sein Reiter den Halt in den Steigbügeln verlor und hinab auf den Waldboden stürzte. Fluchend rappelte sich der Junge wieder hoch und sah sich um. "Was hat dich denn so erschreckt?" fragte er sein Pferd vorwurfsvoll, das neben ihm stehen geblieben war und seine Ohren spitzte.
Tassilo sah in dieselbe Richtung und erkannte bei genauerem Hinsehen verschiedenfarbige Flügel vieler Feen auf der Lichtung, deren Schimmer durch die Bäume hindurch blitzte. Sie schienen ihn nicht bemerkt zu haben. Neugierig geworden, trat Tassilo im Schutz der Bäume näher und spähte hinter einer Tanne versteckt,  auf die Lichtung. Dort fand gerade eine Versammlung statt. Elf Feen waren erschienen. Der Vollmond vergoss sein  helles Licht und tauchte alles in einen magischen Glanz.
"Wir haben uns heute hier versammelt, um euch allen mitzuteilen, was wir über das Verschwinden unserer weißen Schwester herausgefunden haben." begann eine Fee mit lauter Stimme zu sprechen. Ihr Kleid und ihre Flügel besaßen die Farbe von intensivem Zinnoberrot. Eine weitere Fee trat hervor, ihre Gestalt strahlte so gelb wie der Weizen. "Das fanden wir in Rumpelstilzchens Haus. Es ist ein Reim, der von drei Königskindern und drei Symbolen spricht. Sie hob eine vergilbte Pergamentrolle in di Höhe und las deren Inhalt laut vor:

"Es waren drei Königskinder,
die gehen und kommen geschwind,
ein Blütenblatt schwebt durch die Luft,
die Rose umsäuselt der Wind.

Es waren drei Königskinder,
die gehen und kommen geschwind,
was es wohl die's Mal spinnt?

Es waren drei Königskinder,
die gehen und kommen geschwind,
der eine Apfel leuchtet gelb,
wer nun den roten nimmt?

Dabei muss es sich augenscheinlich um die drei verschwundenen Königskinder von Königin Belle mit der Rose, Königin Dornröschen oder auch Aurora genannt, mit dem Spinnrad und schließlich Königin Schneewittchen mit dem roten Apfel handeln.
Die Kräfte unserer weißen Schwester gingen langsam zur Neige und sie musste eine Nachfolgerin erwählten:
Eines der drei wird sie dazu bestimmt haben, ihre Kräfte zu übernehmen...

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