Das Kind in der Zelle

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Der angetrocknete Urin in der mickrigen, etwas mit Stroh bedeckten Zelle, stank widerlich. Ein paar Ratten huschten mit glänzenden Augen umher. Witternd stellten sie sich auf die Hinterläufe und zitterten vor Erregung, den Geruch von frischem Blut gierig aufnehmend. Hilflos kauerte eine gekrümmte Gestalt in der Ecke. Die Haare der Frau waren fast vollständig weiß - jedoch nicht vom Alter: Eine schreckliche Krankheit hatte sie erbleichen lassen. Eitrige Geschwüre entstellten das frühzeitig gealterte Gesicht und den gesamten Körper der Frau. Diese platzten immer wieder auf und aufs Neue bluteten und schmerzten. Das Salz der Tränen, die sich die Wangen hinunter ihren Weg bahnten, brannte höllisch. Hoffnungslos hatte Martha ihre Augen gen Himmel gerichtet und hoffte, dass ihr Wunsch zu sterben, erhört wurde.

Die Böse schritt mit wehendem Mantel hinunter zu den Verliesen. Schreie der Gegangenen hallten an den Wänden wider. Flehende Hände streckten sich durch die Gitter hindurch, verzweifelt nach etwas Essbarem ausgestreckt. Jeder Hand, an der die schwarze Fee vorbei kam, versetzte sie einen scharfen Tritt, so dass sie die Betroffenen mit einem Schmerzensschrei und unter Gestöhne wieder zurück zogen. Sich am Leid ergötzend und voller Vorfreude schritt die dreizehnte Schwester der zwölf Feen weiter, bis sie schließlich vor ihrem Ziel stehen blieb und durch die Ritzen der eisernen Gitterstäbe voller Verachtung und Hohn auf die die totkranke Martha blickte. Die Augen der Kranken weiteten sich und sie richtete sich erschrocken auf. "Was...was hast du mit meinem Kindern vor?!" schrie sie panisch und robbte unter großen Schmerzen näher, das verunzierzte Gesicht zu einer Fratze verzerrt. Doch der Drang, ihr Baby zu sehen, überstieg die Schmerzen. "Dein Kind?" , entgegnete die schwarze Fee, dem Schein nach, erstaunt. "DEIN Kind wird Teil einer Vorstellung sein, Gefangene." "Einer Vorstellung?" ' antwortete Martha ängstlich. "Welcher Vorstellung?" Genüsslich strich die Mächtige mit einer schwarz behandschuhten Hand über den nackten Kopf des Kindes, auf dem sich einige schwarze Härchen kringelten. Sie genoss das Gefühl, die Angst in den Augen der Mutter zu sehen. "Eine Vorstellung, die eigens für dich geplant ist. Hast du dir schon einmal überlegt, wie dein Kind ohne Arme aussehen würde?" "Neeeeeeeeeiiiiinnn!" , brüllte Martha entsetzt, ihre Stimme überschlug sich. "Bitte nicht!" Unbeeindruckt zog die schwarze Fee ihr Schwert hervor. "Ach, vor Gebrauch sollte es vielleicht noch gereinigt werden..." Tödlich langsam strich sie mit der Klinge über den Stoff, in den das Kind eingewickelt war. Rote Striemen zeichneten sich nun darauf ab. Martha war schlecht und sie hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. "Tut das nicht, bitte!" forderte sie stöhnend. Ihre Stimme wurde leiser. Die Schmerzen steigerten sich ins Unerträgliche. Konzentriert nachdenkend, steckte die Fee ihr Schwert wieder in die Scheide zurück. "Du hast Recht." , stellte sie einen Wimpernschlag später fest. "Es gibt eine viel bessere Möglichkeit, dein Kind in den Tod zu schicken: Es soll dir den Rest deines erbärmlichen Lebens, Gesellschaft leisten!"

Martha riss vor Entsetzen den Mund auf. "Nein, bitte....tut das nicht!" stammelte sie, unfähig, noch mehr zu sagen. "Wieso denn nicht?" lachte die schwarze Fee und winkte dem Wärter, um die Kerkertür zu öffnen. "Weil ihr ein Herz habt." versuchte Martha verzweifelt und mit voller Überzeugung ihre Peinigerin umzustimmen. Die Böse blieb einen Augenblick stehen und blickte Martha verächtlich an und spottete: "Die Lepra muss dir deine Denkkraft geraubt haben, Weib! Ich besitze kein Herz und wenn ich eines besäße, wäre es schon längst abgestorben!" , Höhnisches Lachen begleitete diesen Satz. "Nun, hier hast du deinen Balg. Einen angenehmen Aufenthalt wünsche ich euch!" Hastig sperrte sie das Baby zu Martha in die Zelle. Dann drehte sie sich herum, tauschte einige Worte mit dem Wächter aus und verließ die Zellen. Jetzt war alles erneut in völlige Dunkelheit getaucht. Einzig allein die Fackeln, die ihren leuchtend orangen Schein flackernd an die Wände warfen, erhellten die Finsternis. Besorgt, aber dennoch vorsichtig, um es ja nicht frühzeitig anzustecken, beugte sich Martha, so gut es ging, über das Kind. Es schlief glücklich und nichts und niemand, nicht einmal die schwarze Fee, schien seinen Schlaf stören zu können. Erleichtert seufzte die Mutter auf. Doch dann hielt sie jäh inne und starrte ungläubig auf das Gesicht des Kindes. Sie robbte näher heran und begutachtete die Züge der Wangen, die Nase und Augen und dämmrigen Licht. "Das ist nicht Alina.", murmelte sie verwirrt. "Das ist nicht meine Tochter." Ihre Tochter Alina besaß zwar ebenfalls schwarze Haare, aber ihre waren weich und glatt - nicht so voll wie die des Kindes, das vor ihr lag. Auch das Gesicht besaß eine schmalere Struktur und auch die kleine Nase eine spitzere Form. "Wo ist mein Kind nur?" flüsterte Martha weinend und warf einen ängstlichen Blick in die Dunkelheit, auf die Stelle, an der sie den Kerkermeister vermutete. Er schien nichts gehört zu haben, alles blieb still. "Wer bist du?" flüsterte sie als hoffte sie darauf, der Säugling könnte ihr antworten. Stattdessen schlug das Baby schläfrig die Augen auf, blickte sie jedoch im nächsten Moment wach und eindringlich an. Dann schlief es wieder ein.

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