Heimat

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 Kapitel 32:

Janiyana war sich ziemlich sicher, sich noch nie so elend gefühlt zu haben, wie in diesem Moment. Ihr Kopf dröhnte und ein ständiges Knirschen verhinderte, dass sie ihre übersinnlichen Fühler ausstrecken konnte, um ihre Umgebung auszukundschaften. Nicht der körperliche Schmerz, sondern die geistige Amputation störte sie am meisten. Sie fühlte sich schwach und sterblich, ein Gefühl das sie selbst in den Jahrhunderten in diesem Labyrinth nicht gespürt hatte. Sie öffnete die Augen und während sie den festen Steinboden unter ihrem Körper befühlte, der so glatt war, das er ihr wie Glas vorkam, musste sie feststellen, dass sie anstatt ihres zerrissenen Nachthemdes ein pompöses Kleid trug.
Tüll und Seide bedeckte ihre Beine und einen Teil ihrer Brüste, während ihre Haut mit goldenen Ornamente verziert war. Ein Grollen entfuhr ihrer Kehle und sie wusste ganz genau, was sie erwartete, als sie eine ihrer Hände an ihr Haar führte.
Sie spürte den feinen Staub darin, das leise Knirschen, als sie ihn zwischen den Fingern rieb und dann vor ihr Gesicht hielt und ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Diamantenstaub. Schwarzer Diamantenstaub, der ihre dunklen Haare in ein dunkles Farbspiel verwandelte und sich mit der Zeit über ihren ganzen Körper legen würde.
An diesem Ort passierte das immer. Der Staub lag in der Luft und jeder der hier lebte, würde früher oder später von ihm bedeckt werden. Allerdings hatte Janiyana nicht geglaubt, je wieder hier zu sein. Zu Hause.
Sie schwang sich auf, brauchte eine Weile, um sicher stehen zu können und das Kleid näher zu betrachten, in das dieses Miststück sie gesteckt hatte. Traditionelle Kleidung ihres Volkes. Freizügig, Kostbar und irgendwie falsch. Selbst der Staub in der Luft kratzte in ihren Lungen, als wäre das hier nicht ihre Heimat, sondern eine fremde Welt.
Der Raum in dem sie sich befand, war rund, aus massivem, spiegelglatten Stein, der in rot und weiß schimmerte. Ein Gestein das in ihrer Wahlheimat nicht vorkam. Der Anblick dieses vertrauten Farbenspiels sollte sie freuen, hatte sie doch in den ersten Jahrhunderten auf der Erde schrecklich unter Heimweh gelitten. Doch das tat es nicht. Sie mochte die Ebene in der ihre Brüder und sie zufällig gestrandet waren, auf dieser Ebene gab es nicht nur Schönheit, sondern auch so viel hässliches, dass diese auch endlich mal wirklich zur Geltung kam. Hier war alles immer gleich perfekt. Keine rauen Kanten, keine unvollkommenen Züge, keine ursprüngliche Rohheit. Selbst Yorinas bösartige Grausamkeit war fein geschliffen, perfektioniert und ohne Makel. Sie hatte genug von diesem Ort, sie wollte nach Hause.
Sie wollte zurück in eine Welt, in der der Regen schlammige Schlachtfelder hinterließ, in denen Canyons sich wie Narbengewebe durch die Erde zogen und wo ein Mann lebte, der so rau und naturgewaltig war, wie die trostlose Einöde aus der er stammte.
Es gab nur eine Tür, die aus diesem Raum führte und als „Tür" konnte man sie eigentlich nicht bezeichnen. Es war einfach nur ein perfekt geschlagene Öffnung, die auf einen Balkon herausführte, wo der Wind so donnernd und tosend von ihr Besitz ergriff, dass sich Janiyana kurz fragte, ob er sie nach unten wehen würde.
Dennoch ging sie das Risiko ein. Der Wind mit seinem schwarzen Diamantenstaub riss an ihren Röcken und an Haaren und verdeckte das Meiste von dem Anblick, der sich ihr hatte offenbaren können. Nicht dass der es wert gewesen wäre. Hier gab es keine wirkliche Landschaft, dieses trostlose Stück Heimat war eine einzige riesige Stadt, dessen Ende nie jemand ausgekundschaftet hatte. Ihr Volk war im Gegensatz zu den Menschen nie sehr wissbegierig gewesen, sie waren der Inbegriff der Sesshaftigkeit, was nun einmal auch beinhaltete, dass man sich nur so weit aus seinem Umfeld bewegte, wie man musste.
Also sah Janiyana nach oben: sie befand sich in einem Turm. In einem DER Türme, die die künstliche Atmosphäre des Planeten hielten. Oder halten sollten, denn anstatt des ihr bekannten leichten Flimmerns, das den Polarlichtern auf der Erde sehr nahe kam, sah sie gar nichts. Nur einen ungezügelten Blick auf einen Sternenhimmel, der ihr längst nicht mehr vertraut erschien.
„Ich würde nicht noch weiter hinaustreten. Du würdest innerhalb von Sekunden in deine Atome zerfallen", sinnierte eine seidige Stimme hinter ihr. Das Kind war wieder da, das Böse, das Leben.
Das Leben ist grausam.
Dieses Sprichwort hatten sie und ihre Geschwister in den Wortschatz der Menschen gebracht. Und dieser Ausruf war immer wortwörtlich gemeint gewesen. Das Leben war grausam, denn Yorina war ein grausames Geschöpf. Das hatten die Sterblichen einfach nur vergessen.
„Sind wir wirklich hier?", fragte Janiyana. Es war sinnlos gegen dieses gottgleiche Weise zu kämpfen, sie konnte nur mit einer Unterhaltung herausbekommen warum sie hier war, was Yorina mit ihr vorhatte und was das alles zu bedeuten hatte. Und ihre Frage war berechtigt. Yorina mochte auf dieser Ebene eine Göttin sein, doch dieses Machtverhältnis verschob sich von Ebene zu Ebene. Andere Universen, andere physikalische Gesetze, andere Götter. War Yorina hier ebenso mächtig, wie auf der Erde? Konnte das sein?
Janiyana hatte im Laufe ihrer Zeit nur wenige Gemeinsamkeiten zwischen ihrer ehemaligen Heimat und der Ebene, in der die Erde existierte, festgestellt. Nur eines hatten sie gemeinsam: die optische Erscheinung war in fast allen bekannten Ebenen die Gleiche. Während sich die Menschen vorstellten, jeder Planet müsste eine komplett andere Form von intelligentem Leben beherbergen, wie Echsenmenschen und andere nicht humanoide Lebensformen, vergaßen sie doch stets eines: Das Leben entstand nicht von selbst. Götter existierten und wenn diese die Fähigkeit besaßen in Ebenen zu springen, brachten sie ihre Vorstellung von Leben bereits mit sich. Genauso wie Janiyana und ihre Brüder ihre Vorstellung von Zivilisation auf die Erde mitgebracht hatten: Häuser, Städte, Wissenschaft und auch Religion.
Auch wenn Janiyana nicht verstand warum die Menschen ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht in Einklang mit ihren ursprünglichen Religionsvorstellung bringen konnten. Vielleicht weil sich ihre Vorstellungen ein wenig zu selbstständig gemacht hatten – etwas was Janiyana wieder ändern würde, sobald sie wieder da war, wo sie hingehörte.
Auf die Erde. Zu Erik.
„Nicht wirklich, das hier ist eine Erinnerung, die ich mit dir teilen möchte."
Janiyana sah wieder nach oben. Die Kuppel fehlte. Und als sie genauer hinsah, auch jede menge Sterne. Ein Teil des Himmels war wie leergefegt.

Verlorene Zeit - Dark Immortals Bd.1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt