Zwischen den Zeiten

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„Wie lassen sie sich lösen?", fragte Erik, umfasste ihre viel zu dünnen Oberarme und sah sie eindringlich an. Ihre Lippen waren bereits wieder trocken und spröde, sie brauchte mehr Blut, sonst würde die Bestie zurückkehren, ehe er seine Herrin befreit hatte. Noch immer schien es ihr nicht möglich Wörter zu formen, weder mit dem Mund, noch mit ihren Gedanken. Doch als eine sibirische Kälte über ihn hinwegfegte und er die schillernden Farben des Gletschereises in seinem Geist wahrnahm, kannte er die Antwort.

Eis, so einfach, so lächerlich einfach und doch so unmöglich in einer Wüste zu beschaffen. Aber ihre Peiniger hatten nicht mit dem einundzwanzigsten Jahrhundert gerechnet.

„Ich komme zurück", sagte er und lief so schnell wieder ins Freie, dass er vergaß die Leinentücher wieder anzulegen, die ihn vor der Sonne schützen sollten. Doch zu seiner großen Überraschung war nicht mehr die Mittagssonne am Himmel zu sehen, sondern die Sterne.

„Erik? Scheiße wir dachten schon du kommst da nie mehr wieder raus!", rief Memphis. Sein langes schwarzes Haar lag ihm in einem dicken Zopf über den Schultern, was seiner Attraktivität keinen Abbruch tat und seine exotischen ägyptischen Gesichtszüge sogar noch betonte.

„Wovon redest du? Ich war nicht mal zwanzig Minuten da drin."

„Mein Freund, es war waren fast zwei Wochen." Was? Erik sah sich verwundert um und entdeckte die ausgetrockneten Leichen im Sand, die sich die Wüste schon fast vollständig wieder einverleibt hatte.

„Linus meinte, dass du vielleicht ein paar Tage brauchst um dich zu erholen, wenn sie dich tatsächlich angegriffen hat. Wir wollten Morgen Val'enian Bescheid geben, damit er nachsehen kann. Wenn sie ihren Verstand verloren hat, ist er der einzige der ihr beikommen kann."

„Nein!", entfuhr es Erik so plötzlich, dass Memphis auf eine sehr kultivierte Art die Augenbraue hochzog und ihn ansah, als hätte er den Verstand verloren. Doch Erik hatte weder Zeit ihm zu erklären, dass ihr Bruder Val'enian möglicherweise erst für ihre Lage verantwortlich war, noch ihm mitzuteilen, dass es Janiyana eigentlich den Umständen entsprechend gut ging.

„Nein?"

„Vergiss es, ich brauche Eis! Habt ihr etwas in der Kühlung wo sich die Blutkonserven befinden?"

Memphis nickte nur und Erik nahm sich unter Linus erstauntem Blick nicht nur einen der Eiscontainer, sondern auch eine ganzes dutzend Blutkonserven.

„Es könnte wieder etwas dauern bis ich wieder da bin. Sagt Val'enian nichts davon, dass wir sie gefunden haben. Ich erkläre es euch später."

Mit dieser knappen Erklärung hechtete Erik zurück in das Labyrinth. Diesmal wurde er von einem mentalen Singsang begrüßt, der noch immer etwas instabil war, ihn aber geradezu ins Zentrum des Gefängnisses zog.

Janiyana hockte auf den Boden, die Finger in den Stoff seiner Jacke vergraben, als suchte sie daran Halt. Sie sah noch einsamer und verletzlicher aus, als in dem Moment, in dem ihr die Tränen über das Gesicht geströmt waren.

„Du hast gesagt kurz. Das war nicht kurz", flüsterte sie mit schwacher verzweifelter Stimme. Etwas stimmte an diesem Ort mit der Zeit nicht, doch auch dafür hatte Erik keine Zeit. Er reichte ihr die Konserven und schüttete den Eisbehälter über die Kette. Er konnte nur hoffen, dass dies reichte. Janiyana zerfetzte die Beutel so schnell, dass sicher ein Großteil eher auf ihrem Körper landete, doch die letzte Konserve trank sie so zivilisiert, dass er kurz glaubte ihr Hunger könnte gestillt sein. Er lag wohl richtig, denn als sie mit einem kräftigen Ruck an den mit Eis überschütteten Ketten zog, zerfielen sie wie Papier.

Erik erhob sich langsam wieder und spürte wie sich seine Instinkte aufbäumten und sich die Haare in seinem Nacken aufstellten. Etwas in ihm rührte sich, etwas Urmenschliches, dass er glaubte schon vor Jahrtausenden begraben zu haben. Der Trieb vor einem Raubtier zu fliehen, dass von der Leine gelassen worden war.

Sie könnte ihn töten ohne mit der Wimper zu zucken, aussaugen, zu Kräften kommen und alles in Schutt und Asche legen, was sich ihr entgegenstellte. Ihre Ketten waren zerbrochen, das Tor zu ihrem Gefängnis weit geöffnet, mit ihrer Befreiung hatte er sich entbehrlich gemacht. Er ballte beide Hände zu Fäusten und seine Muskeln spannten sich an, als er sich langsam zu ihr herumdrehte und die feingliedrige und halb verhungerte Gestalt betrachtete, die in seiner Jacke mehr als verloren aussah.

„Eine Zeitverschiebung. Diese Bastarde glaubten mich damit besser festhalten zu können. Wie viel Zeit ist draußen vergangen?", fragte sie und betrachtete den Stoff der Jacke um ihre Schultern genauer.

„Über zweitausend Jahre." Mit einem Schlag richteten sich ihre Augen auf ihn, suchten nach einer Lüge in seinem Blick, dann in seinem Kopf. Es war, als würde sie mit der gesamten Hand in seinen Kopf eindringen und ihm das Hirn zermalmen, während sie es aus ihm herauspresste. Er ließ es über sich ergehen, sich zur Wehr zu setzen hätte nur bleibende Schäden in seinem kognitiven Stamm angerichtet und er hatte nicht vor, die Ewigkeit als sabbernde Leiche zu verbringen.

„Ich belüge dich nicht. Das würde ich nie wagen. Ich habe in dieser Zeit nichts anderes getan, als dich zu suchen und dich zu rächen."

Noch bevor er begriffen hatte, dass er sie nicht vollständig verloren hatte, war er getrieben von dem Wunsch gewesen, diejenigen dafür büßen zu lassen, die ihr am nächsten gestanden und sie so schamlos verraten hatte. Offensichtlich hatte er den Kopf der Schlange nicht einmal zu Gesicht bekommen.

„Für mich sind hier nur ein paar Jahrhunderte vergangen, so eine Schleife ist nicht stabil, sie kann mal langsamer verlaufen als da draußen und dann man schneller. Ich habe die Sonne acht Mal auf und unter gehen spüren gespürt, als du gingst und wieder kamst. Aber im großen und ganzen haben meine Brüder nun ein Vorsprung von fast einem Jahrtausend. Das bedeutet sie sind mächtiger als ich und das bedeutet, dass sie mich töten können wenn sie wollten." Den letzten Satz sagte sie eher zu sich als zu ihm.

Mit jedem Tag der verging, wurden Unsterbliche mächtiger, mit jeder anbrechenden Nacht schöner. Sie und ihre Brüder waren die Ersten, niemand wusste woher sie kamen und sie erzählten es niemanden, aber es hatte immer ein Gleichgewicht gegeben, weil sie alle die Zeit gleichmäßig erlebten. Das war nun vorbei.

„Ich drehe dir nicht den Rücken zu, nur weil du nicht mehr allmächtig bist. Ich habe gelernt, dass die physische Macht nicht alles ist, was zählt."

Sie sah ihn lange einfach nur an. Ihre Hand in seinem Kopf zog sich zurück. Näherte sich ihm nun aber wieder physisch. Er roch das Blut an ihrer Haut und den blumigen Duft ihrer Haare, der längst nicht mehr hätte da sein sollen.

„Du hast Angst, dass ich dich töte, aber das musst du nicht. Bring mich nach Hause, Erik Erikson." Sagte sie, während sie die verblassten blauen Tätowierungen an seinem Kinn und Hals berührte. Er hatte sie nie auffrischen lassen, hatte nie daran gedacht die alten Symbole seines Clans wieder zurück zu holen. Es gab keine Verbindungen mehr, denen er nachhängen konnte – schon lange nicht mehr. Seine Zukunft war sie.


Verlorene Zeit - Dark Immortals Bd.1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt