Der Junge im Schnee

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 Kapitel 39:

Erik weigerte sich Kelly zu opfern. Er zweifelte immer wieder am Erfolg dieses wirklich dämlichen Plans und fragte sich, wie viel er noch würde opfern müssen, um Janiyana zurückzubekommen.
„Erik, das ist Wahnsinn. Loki kann man nicht vertrauen. Verdammt nochmal, er ist der Gott der schlechten Witze, du kannst unmöglich daran glauben, gegen eine Fast-Göttin gewinnen zu können."
Memphis redete bereits die ganze Zeit auf ihn ein, während Kelly fest entschlossen einige Schritte vorausging und nicht davon abzubringen schien, das hier durchzuziehen. Sie waren vor nicht einmal zwei Stunden gelandet, hatten die aggressive Tagessonne im Jet abgewartet und befanden sich nun auf dem Weg, den unbefestigten Trampelpfad herauf zu den Ruinen des Tempels von Delphi. Er hatte keine Ahnung, wo sich in dieser viel besuchten Touristenfalle, ein tatsächliches Orakel verstecken sollte, aber das war der einzige Ort, den sie kannten. Und an dem sie mit ihrer Suche beginnen konnten. Eine beschissene, sehr gut erforschte Ruine. Erik rechnete kein bisschen damit, dass dort tatsächlich irgendetwas sein könnte.
„Erik, verdammt. Ich weiß, dass du sie liebst, du kannst nicht wirklich zulassen wollen, dass sie sich opfert."
„Versuch sie aufzuhalten!", schlug Erik dem Ägypter vor, der ihn daraufhin nur verärgert anblickte, etwas auf ägyptisch schimpfte und dann wieder zu Kelly lief, um sie davon zu überzeugen, dass dies eine Schnapsidee war. Das hatte er schon die Stunden im Flieger versucht und war bei der hübschen Blondine auf taube Ohren gestoßen. Erik glaubte nicht daran, dass er irgendetwas bewirken könnte und selbst wenn...
Es wäre in Ordnung. Wenn Kelly sich nicht aus freien Stücken zu diesem Versuch bereit erklärte, würde er sie nicht zwingen. Niemals. Sie war sein Geschöpf, sein Kind und er würde einen anderen Weg finden Janiyana zu finden. Doch wenn sie den Mut aufbrachte und das Vertrauen in seine Fähigkeiten, dann wollte er ihr darin nicht nachstehen.
Als Memphis wieder mit Engelszungen begann auf sie einzureden, warf Kelly einen kurzen Blick über ihre Schulter und schickte ihm eine geballte Ladung von Ärger durch das Band, das sie miteinander verband.
„Vertraust du mir nicht, Erik Erikson?", fragte sie streitlustig. Erik nahm ihre Wut über sein Zögern entgegen. Er verdiente sie.
„Ich habe Angst um dich", gestand er ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie viel er damit über sich selbst verriet. Das war das erste Mal, dass er ihr so unverblümt sagte, wie wichtig sie ihm war und dass er sie nicht nur als die Auswirkung eines Anfluges von Mitleid betrachtete, der ihn dazu verpflichtete für sie zu sorgen, bis sie alt genug war. Die Welle der Wut verebbte. Freude und Dankbarkeit schwang ihm entgegen.
Diese Verbindung zwischen ihnen war so neu, dass er noch nicht richtig mit dem Einfluss fremder Gefühlsregungen umgehen konnte. Sie blieb stehen und wartete bis Erik den Rückstand aufgeholt hatte, dann verschränkte sie ihre Arme und sah ihn fragend an. Wahrscheinlich hatte sie die folgende Diskussion schon im Flugzeug mit ihm führen wollen, doch dummerweise war Kelly zu jung um am Tag wirklich wach bleiben zu können. Sie schlief noch genauso lang wie sie es als Mensch getan hatte – nur eben am Tag.
„Seit ich dich kenne, wird dein Selbstvertrauen nur von deiner Gier nach Jana übertroffen, was ist also passiert?"
Erik prustete. Kelly hatte es schon immer genossen ihn aufzuziehen.
„Ich vertraue darauf, dass ich dich beschützen kann. Es ist Loki, dem ich nicht traue."
„Ihm kann man auch nicht vertrauen, verdammt!", rief Memphis dazwischen, Erik ignorierte ihn.
„Wir wissen nicht, ob das Orakel, das ist, was er behauptet oder dass sie die Motive verfolgt, die er schildert. Oder ob es überhaupt existiert. Ich lebe schon verdammt lange und nie hat irgendwer ein Orakel erwähnt."
Kelly ließ diese Argumente nicht gelten, zuckte nur mit den Schultern und sah weiter zu ihrem Erschaffer auf.
„Und? Du bist mit Scheuklappen durch die Welt marschiert und hast Leuten nur zugehört, wenn sie dir etwas über Janiyana erzählt haben. Du weißt nicht was in der Welt der Vampire los ist und es hat dich auch nie gekümmert. Und ich vertraue Loki, er hat keinen Grund nicht die Wahrheit zu sagen."
„Ich glaube Feiglingen nicht", widersprach Erik, leugnete aber den Rest ihrer Worte nicht. Sie hatte recht. Er hatte sich nie mit den Gesetzen und Regeln der Vampire auseinandergesetzt, war stets ein Außenseiter gewesen, hatte nie wirklich dazugehört. Wie schon zu Lebzeiten.
Erik konnte nicht verhindern, dass die uralten Erinnerungen wieder in ihm aufstiegen, die er längst abgelegt geglaubt hatte. Dennoch stiegen Bilder in ihm auf. Bilder von einer schneebedeckten Landschaft und brennenden Häusern um sich herum. Das waren seine frühsten Erinnerungen und er hatte keine Ahnung, wie alt er gewesen war, als er im Schnee gelegen und Männern dabei zugesehen hatte, wie sie plünderten, stahlen und vergewaltigten.
Sein Heimatort war vollständig vernichtet worden und der einzige Grund warum er überlebte, war, weil der Anführer der Angreifer Mitleid hatte.
>>Du bist ein starker, kleiner Junge, nicht? Ich wünschte, ich hätte so einen starken Jungen zeugen können, aber die Götter haben mich verflucht. Odin hat sich von mir abgewandt.<< , hatte er gesagt, während er mit blutverschmiertem Gesicht auf ihn herabgeblickt hatte. Er hatte nicht von Anfang an vorgehabt ihn zu verschonen, doch in dem Moment, als Yarl Erik sein Beil ausholte um den kleinen Jungen den Gnadenschlag zu verpassen, erhellte ein Blitz das Gebiet und unter Eriks kleinen Körper war ein komplizierter Kreis aus Runen im Schnee gebrannt worden.
Ein Zeichen der Götter... so hatte es der Yarl interpretiert und den Jungen bei sich aufgenommen – und als seinen eigenen Sohn groß gezogen. Sogar den Namen hatte er von ihm erhalten. Erik, Sohn des großen Yarls Erik. Erik Erikson. Zumindest hatte man es ihm so dann immer gesagt. Er hatte keine Ahnung, ob das alles wirklich so geschehen war, die Erinnerungen eines Kindes lassen sich durch Geschichten verändern. Dennoch hatten diese Geschichten zumindest einen sehr realen Zweck erfüllt: Sie hatten dafür gesorgt, dass Erik nie wirklich dazugehört hatte. Ja, er war ein Krieger seines Volkes geworden, hatte geplündert, hatte Schlachten geschlagen, hatte Odin alle neun Jahre ein Opfer dargebracht und dann eines Sommers, waren er und seine Männer in einem fremden Land gelandet und gestorben.

Und er hatte Janiyana gefunden. Seine neue Göttin.

Verlorene Zeit - Dark Immortals Bd.1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt