Kapitel 55

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Kapitel 55:

Jeta

Diesen Schock musste ich erstmal verdauen. Ich wusste ja, dass ich eben noch gedacht hatte, dass es schön wäre, etwas von Luan in mir zu tragen, aber jetzt wo ich Gewissheit hatte, gefiel mir das gar nicht. Gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen. Die arme Kreatur in mir. Sie konnte ja nichts dafür. Sie war am unschuldigsten in dieser Sache. Unbewusst strich ich mir durch den Bauch.

Erst jetzt kam mir wieder in den Sinn, dass ich noch immer bei der Ärztin drinnen war. Diese erkannte meine Sorgen und versuchte mich zu ermutigen: „Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Für viele werdende Mütter ist es anfangs ein mulmiges Gefühl, wenn sie es erfahren, aber glauben Sie mir, später werden Sie nichts mehr lieben, als Ihr Kind. Nicht mal den Erzeuger". Sie grinste zufrieden und zwinkerte mir zu.

Der Erzeuger. Oh Gott. Der Erzeuger. Er war weit weg. Ich hatte mich von ihm getrennt. Mir wurde schwindelig.

Shqipe wirkte besorgt: „Hey, Cousine, alles klar? Du bist so blass". Als ich keine Antwort gab, wandte sie sich panisch an die Ärztin. „Sie ist so blass. Warum ist sie so blass?".

Die Ärztin wollte gerade auf mich zukommen, da sprach ich: „Alles gut. Ich ... danke. Gehen wir, Shqipe. Wir haben ja immer noch Zeit zuhause alles zu verdauen."

"Warten Sie. Ich möchte Ihnen doch noch sagen, dass das Kind erst fünf Wochen alt ist. Hier" Sie überreichte mir ein Ultraschallbild. Ich betrachtete es und konnte nur mit Mühe meine Tränen zurückhalten.

Ich wartete bis wir im Auto waren und brach schließlich drinnen in Tränen aus. „Oh Gott" schluchzte ich. Immer wenn man glaubte, es ging nicht schlimmer, kam es doch noch schlimmer. „Wie ... ich meine ... wie soll ich das hinkriegen alleine? Ich wollte nie eine alleinerziehende Mutter sein. Luan würde es nie erfahren. Er wird nie erfahren, dass er ein Kind bekommen wird". Ich weinte und zitterte, wischte mir immer wieder die Tränen vergeblich weg, die sofort wieder nachkamen, wie rinnendes Wasser.

„Hey.. jetzt beruhig dich doch mal. Alles ist gut. Du hast doch uns". Shqipe nahm mich in den Arm und strich mir sanft über meinen Kopf. Arme Shqipe. Sie litt gerade wirklich mit mir.

„Du bist doch eine Kämpferin, Jeta. Du hast schon so viel erlebt. Meinst du ist das echt was schlechtes? Du bekommst ein Kind von dem Mann, den du liebst. Du kannst immer noch alles richten. Er liebt dich doch. Ich bin mir sicher, wenn du es ihm erklärst, wird er alles verstehen und dich in Nullkommanix wieder zurücknehmen. Und dann sind endlich alle glücklich. Bitte, wein nicht" sagte sie.

Ich dachte gründlich über das Gesagte nach, während ich mich etwas beruhigte. Würde er mich denn zurücknehmen? Würde er mich überhaupt anhören? Würde er es verstehen? Mein Gewissen meldete sich zu Wort. Ich konnte doch auch nicht einfach Tage nach dem Tod meines Mannes einem anderen Mann in die Arme fallen, von dem ich auch noch ein Kind erwarten würde. Wie sollte ich das Onkel Azem und Tante Merita erklären? Was würden sie bloß von mir halten? Nein. Diese Option kam auf keinen Fall in Frage.

„Shqipe. Fahren wir. Ich werde die Tage erstmal gründlich über alles nachdenken. Bitte erwähne das NIEMANDEM gegenüber. Ich möchte das erstmal geheim halten, ja?".

Shqipe sah mich traurig an, während sie losfuhr. „Okay ... aber ... aber ... du ... du willst doch nicht etwa ...?".

„Abtreiben? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht". Erneut rannen mir Tränen die Wange runter. Ich wusste es echt nicht. Meine ganze Zukunft war ungewisser denn je. Unter anderen Umständen hätte ich mich über nichts mehr gefreut, als von Luan ein Kind zu bekommen. Wir hatten auch schon darüber gesprochen. Oh, Luan.

--

Die nächsten Tage waren ruhig verlaufen. Shqipe und ich hatten dieses Geheimins für uns bewahrt. Shqipe war mir auf Schritt und Tritt gefolgt und hatte versucht mich stets aufzumuntern.

Hier saß ich dennoch, den Laptop auf dem Schoß, und suchte nach Abtreibungskliniken in der Nähe. Ich versuchte gefasst zu bleiben. Mir gefiel der Gedanke, ein Menschenleben umzubringen, bevor es sich noch entwickeln konnte, überhaupt nicht. Jedoch sah ich momentan einfach keinen anderen Ausweg. Ich hatte alle Szenarien durch den Kopf gespielt und war zu diesem Entschluss gekommen.

Shqipe kam ins Zimmer und sah zuerst mich, dann den Laptop an. „Was zum Teufel machst du da?" fragte sie wütend.

Als ich keine Antwort gab, wurde sie noch wütender. „Du ... du spinnst doch. Du bist nicht mehr normal. Du machst dir selber alles kaputt. Du machst dir das Leben unnötig schwer. Anstatt, dass du endlich dein Glück in die Hand nimmst und ENDLICH glücklich mit Luan wirst, spielst du immer noch die trauernde Witwe und willst ein Baby umbringen. Du Mörderin. Und warum das Ganze? Weil du feige bist. Du bist feige. Du weigerst dich glücklich zu sein. Du willst einem Mann die Stellung halten, der dir das Leben zur Hölle gemacht hat. Verdammt Jeta, ich sag ja nicht, dass ich die klügste bin, aber du ... du bist momentan echt dumm".

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Was wenn sie Recht hatte? Mit allem? Was, wenn ich mir wirklich gerade mein Leben komplett verbockte und mir jegliche Chance darauf nahm, jemals glücklich zu sein?

„Jeta. Es tut mir ja leid, wenn ich so hart zu dir sein muss. Ich weiß, du machst ziemlich viel durch im Leben. Und ich weiß, dass es überhaupt nicht einfach für dich ist. Aber das arme, arme Kind, dass du da drinnen hast" sie zeigte auf meinen Bauch „das kann doch nichts dafür. Für nichts. Und Luan ist doch kein Monster. Er liebt dich. Er wird froh sein, dass du auf ihn zukommst." Sie klang nun etwas weicher, aber verzweifelter.

Ich dachte über ihre Worte nach. Ich sagte nichts, weil es dem einfach nichts mehr hinzuzufügen gab. Als wir gefühlte fünf Minuten beide still waren und nichts sagten, sagte sie schließlich:

„Jeta, leg dich jetzt schlafen, ja. Schlaf mal noch eine Nacht darüber. Und morgen früh hast du deine Entscheidung dann schon getroffen. Was auch immer es ist, ich werde dich unterstützen und mit dir kommen. Nur bitte, denk gründlich über alles nach und sei mutig. Sei optimistisch. Sei zuversichtlich. Bitte" sagte sie und gab mir einen Kuss, während sie das Zimmer verließ.

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Ich wälzte mich hin und her und wog jede Perspektive gründlich ab und weinte viel. Mein Magen fühlte sich flau an.

Am nächsten Morgen hatte ich tatsächlich die schwerste Entscheidung meines Lebens getroffen.

„Shqipe. Wir müssen los" sagte ich, steckte meine Dokumente ein und ging mit einem mulmigen Gefühl und verweinter Miene mit Shqipe neben mir aus dem Haus 😥

Një jet me tyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt