Kapitel 52

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Kapitel 52:

Kosovo, 23. Mai 1999:

Sie hatten die Lage früh erkannt. Dennoch hatten sie sich geweigert, ihre Heimat zu verlassen. Ihr Hab und Gut zu verlassen, um in eine fremde Zukunft zu treten. Sie hatten noch Hoffnung gehabt, die Gutmütigkeit hatte sie glauben lassen, dass doch noch alles gut werden würde.

Als serbische Milizen ihre Brüder, ihre Schwestern nacheinander getötet hatten und sie nur ncoh zu dritt übrig waren, hatten sie den Ernst der Lage erkannt. Häuser wurden niedergebrannt, ganze Familien ausgelöscht.

Mann und Frau hatten sie sich miteinander beraten. Sie hatten bis in die frühen Morgenstunden um die toten Angehörigen getrauert, darum, dass sie nun nur mehr zu dritt waren. Trotz der schweren Lage hatten sie dennoch immer wieder betont, wie froh sie waren, dass man ihnen ihren Sohn gelassen hatte. Diese Angst hatte sie nun vollends erreicht – eine Angst, den eigenen Sohn, die eigene Frau, den eigenen Mann zu verlieren.

Sie waren beide Lehrer gewesen. Angesehene Leute, die im Dorf den höchsten Respekt hatten. Seit der serbischen Angriffe hatten sie ihre Berufe aufgeben müssen. Sie hatten sich wochenlang drinnen versteckt, von der Welt abgekapselt. Sie hatten am meisten Angst um ihren Sohn gehabt. Ihren Sohn, der gerade einmal frische 18 Jahre alt war.

Die serbischen Milizen holten sich gerne die jungen Leute. Was sie danach mit ihnen machten: sie töteten sie, sie quälten sie. Manche von ihnen sah man nie wieder. Man wusste nicht, ob sie am Leben waren oder tot, wo sie waren. Verschollen.

Um zwei Uhr morgens hatten sie sich schließlich nach langen Beratens dazu entschieden einen kleinen Koffer mit den notwendigsten Dingen – Geld, ein paar Kleidungsstücke und ein paar Erinnerungen - und Tränen in den Augen ihre Heimat zu verlassen. Den Rest hatten sie dagelassen. Sie hatten alles da gelassen, wofür sie jahrelang gearbeitet hatten. Ihr Hab und Gut, ihr Haus, ihre Nachbarn, ihre toten Familienmitglieder, von denen niemand mehr übrig war. Ihre Identität – alles.

Albert war schon immer ein ruhiges Kind gewesen. Er war fleißig, hatte immer versucht seine Eltern zu unterstützen. Er war in letzter Zeit verliebt gewesen, Aurora. Seine erste große Liebe.
Als seine Eltern ihn mitten in der Nacht aufweckten und ihm die fromme Botschaft verkündeten, hatte er sich zunächst vehement gewehrt. Ihm war alles unwichtig. Er wollte jedoch nicht seine große Liebe verlassen. Tief in seinem Inneren wusste er, er würde sie nie wieder sehen, wenn er jetzt ging.

Es hatte seine Eltern eine ordentliche Ladung Überzeugungskraft gekostet, um ihn von der Notwendigkeit der Flucht zu überzeugen. Sie hatten sich einer kleinen Notlüge bedienen müssen – man habe dies mit Auroras Eltern abgesprochen und würde sich an der Grenze zu Kroatien treffen.

Schließlich hatte der junge Albert nur widerwillig zugestimmt.

Sie waren um drei Uhr morgens aufgebrochen. Geflüchtet, wie Verbrecher, die etwas angestellt hatten. Nur, dass sie nichts angestellt hatten. Sie waren Opfer eines krankhaften Ideologismus geworden. Opfer eines krankhaften nationalsozialistischen Diktators, der einer ethnischen Säuberung entgegen steuerte.

Sie waren mit dem Auto so schnell wie möglich losgeflitzt. Schließlich hatten sie das Auto stehen lassen und waren durch die Wälder weitergelaufen. Sie waren müde geworden, durstig, hungrig. Doch die Not kannte kein Aufgeben, keinen Stopp.

Schließlich hatten sie nur noch wenige Meter vor sich, als sie Geräusche hörten. Schussgeräusche. Einmal. Zwei Mal. Albert hatte sich beängstigt umgedreht, in der Hoffnung, es handle sich dabei lediglich um Fehlschüsse. Als er sich umgedreht hatte, sah er zwei tote Körper vor sich. Zwei allseits bekannte Gesichter. Die Gesichter, die ihn großgezogen hatten. Seine Eltern. Sie waren blass geworden. Sie rührten sich nicht vom Fleck. Die Kugeln hatten ihre Herzen durchbohrt. Wie Tiere hatte man sie erschossen. Einfach so.

Er wurde panisch und rechnete damit, dass er ebenso jederzeit umgebracht werden würde. Doch es kamen keine Schüsse mehr. Er kniete nieder. Rief nach seinen Eltern. Berührte sie, schüttelte sie. Doch es kam nichts. Nach einziger Zeit wurde er heiser ob des vielen Schreiens, Weinens.

Er riss sich zusammen und betrachtete das einzige Ziel vor Augen – überleben. Die Grenze passieren. Um den Willen seiner ermordeten Eltern. Seiner Eltern, die vor seinen Augen ermordet wurden.

Er hatte eine Flucht nach Deutschland geschafft. Hatte Asyl beantragt. Er hatte ewig gebraucht, um sich einzuleben. Es war für ihn besonders schwer, denn er war nicht mehr minderjährig und musste sich um vieles selbst kümmern. Er hasste es, Leute um Hilfe zu bitten. Er dachte oft an die Tage, in denen er unter freiem Himmel geschlafen hatte. Geschluchzt, geschrien, geweint hatte. Völlig alleine auf dieser Welt.

Er hatte lange darüber gegrübelt warum man ihn am Leben gelassen hatte. Als einzigen. Schließlich hatte er das Prinzip einer ethnischen Säuberung verstanden: man hatte seine Eltern getötet und ihn am Leben gelassen, um die Folgen dieser Säuberung noch nachträglich am eigenen Leibe zu spüren.

Zu allem  Überfluss war er eines Tages zufällig darauf gestoßen, dass man seine Jugendliebe ebenso ermordet hatte. Seitdem hatte er sich von Grund auf verändert. Der Schmerz hatte ihn verändert.

Er kämpfte sich nur noch durchs Leben. Und irgendwann: Gab er den Kampf auf.

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Albert Muharremi war am 10. Juni 2016, um 15:35 an einer Überdosis Kokain verstorben. Sein Herz hatte still gestanden.

Er hinterließ eine Ehefrau ... und ein tristes Leben, in dem er Leid erfahren hatte und Leid hinzugefügt hatte....

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