Kapitel 62

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MONSTER – Kapitel 63 –

Den Klang des ersten Schusses würde er niemals mehr vergessen.
Denn er hatte allein ihm gegolten. Und wäre Yesung nicht sofort und instinktiv eingeschritten, hätte dieser seinen siebzehn Lebensjahren bereits ein vorzeitiges Ende gesetzt.
Der Klang des zweiten Schusses hatte sich fest in sein Unterbewusstsein gefressen.
Es war der Schuss aus Yesungs Waffe gewesen. Von der er nicht einmal gewusst hatte, dass sie überhaupt existierte.
Aber er hatte ihr aller Leben mit dieser Waffe gerettet. Mit diesem einen Schuss.
Und ein anderes damit beendet.
„Hör mir zu! Hör mir zu, verdammt!", zischte er eindringlich, während er Yesungs heißes Gesicht fest zwischen seine Hände nahm, denn dieser taumelte schon eine Weile atemlos und Dinge vor sich hin murmelnd im Badezimmer auf und ab.
Nachdem sie Seokjin selbstverständlich sofort ins Krankenhaus gefahren hatten, wussten sie, dass sie zu dem Zeitpunkt dort eh nicht mehr ausrichten konnten, als die Ärzte für ihn taten.
Er hatte schnell bemerkt, wie Yesung immer wieder zur Seite weggeknickt war und er kämpfte ebenfalls angestrengt mit seinem Gleichgewichtssinn, seit sie aus diesem stickigen Keller entkommen konnten.
Die Klänge der Pistolenschüsse hatten ihn für eine Weile beinahe taub gemacht. Noch jetzt klingelten seine Ohren penetrant, doch die meiste Zeit konnte er es inzwischen ausblenden.
Immer noch steckte er in der verschwitzten Kleidung. Es waren inzwischen Stunden vergangen.
An der grauen Wolkendecke ging in der Ferne bereits das goldene Licht eines neuen Morgens auf und die zarten Strahlen liebkosten die Umgebung mit seltsamer Unschuld.
Während Yesung sich keuchend und heftig schluchzend immer wieder hysterisch die Hände am Waschbecken wusch und dabei fast zitternd zusammenbrach, so heftig schienen seine Schultern inzwischen zu beben.
Mit großen, geschockten Augen hatten dessen Kumpel sie beide nach dem Krankenhaus zu Yesung nachhause gefahren. Sie hatten seitdem nichts gegessen, nicht geschlafen, nichts getrunken. Oder kaum ein richtiges Wort miteinander gewechselt.
Die Stunden bis zum Sonnenaufgang waren wie im Flug vergangen. Es kam ihm so vor, als hätte er nur einmal kurz geblinzelt und die Nacht wäre so plötzlich vorüber gewesen. Und mit ihr all die erschreckenden Erlebnisse, die sich nur wenige Stunden zuvor zugetragen hatten.
Wie er panisch vor diesem allwissenden Mann davongerannt war, der ihm sofort und gekonnt auf den Fersen gewesen war. Als hätte er das nicht zum ersten Mal gemacht. Jemanden zu Tode verängstigt und dann wie ein scheues, panisches Tier in die Ecke gedrängt, um es endgültig zu erledigen, denn es würde sich dann sowieso nicht mehr zur Wehr setzten. Es würde seinem Schicksal abschließend ins Augen sehen.
Alles hatte dieser Mann gewusst. Alles über seine Familie, seine Eltern, seine kleine Schwester, die er um jeden Preis vor jedem Harm eigentlich immer beschützen wollte. Und er hatte es vermasselt. So dermaßen, dass er beinahe draufgegangen wäre, wäre Yesung nicht gewesen, der ihm aufopferungsvoll das Leben gerettet hatte. Nicht nur das, sondern auch die Rolle des Schuldigen wie immer auf sich gezogen hatte.
Namjoon wusste ganz genau, dass er diesen Abzug niemals hätte drücken können. Wusste, dass Yesung der Mutigere von ihnen in dieser Situation gewesen war und seine Tat jeglichen Respekt verdiente, auch wenn sie im Grunde genommen furchtbar grausam war. Aber grausam notwendig gewesen, um ihre eigenen Leben irgendwie zu retten und zu beschützen. Es würde womöglich etwas sein, was er niemals mehr in seinem Leben vergessen würde.
In seltsamer Vorahnung konnte er wissen, dass die Klänge jener Schüsse ihn noch für eine sehr lange Zeit verfolgen würden.
„Du hast aus verdammter Notwehr gehandelt! Hörst du mir zu?! Du hast nichts zu befürchten!", sprach er energisch auf Yesung ein, dessen Gesicht er immer noch so fest zwischen seinen Händen hielt und ihn leicht zu schütteln begann, als er wieder gequält die Augen schloss.
Deutlich stand der Schweiß der Anstrengung und der Panik auf seiner Stirn und Namjoon spürte, wie ebenfalls alles an ihm klebte.
Als Antwort gab Yesung nur einen geplagten Laut von sich und riss sich schließlich von ihm los.
Dieses Mal nicht, um sich zum tausendsten Mal die Hände mit zu viel Seife zu waschen, sondern um zur Toilette hinüberzustolpern und sich heftig zu übergeben.
Er kniff angestrengt die Augen zusammen, während Yesung seinen ganzen Mageninhalt über der Kloschüßel leerte und erschöpft rieb er sich mit dem Handrücken über seine Stirn, um irgendwie die Haare beiseitezuschieben, die so penetrant an ihr klebten und in seine Augen stachen. Oder vielleicht taten sie auch einfach nur weh von der Müdigkeit und der Anstrengung und jetzt, wo das meiste Adrenalin nachgelassen hatte, wollte er sich einfach nur erschöpft irgendwo hinlegen und seinen eigenen, zitternden Körper irgendwie zur Ruhe bringen.
„Alles mache ich falsch... Alles ist meine Schuld...", flüsterte Yesung von der Toilette her und seine Stimme brach immer wieder kraftlos weg.
„Nein. Nein! Wenn du wenigstens eine Sache richtig gemach hast, dann uns zu verteidigen und unser Leben zu beschützen", versuchte er ihm irgendwie gut zuzureden, während er das Badezimmerfenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, die sie beide mehr als nötig hatten.
„Namjoon... Ich habe sein verdammtes Gesicht gesehen... Es war direkt vor mir... Nach all der Zeit..."
Jetzt drehte er langsam den Kopf in seine Richtung und legte nachdenklich die Stirn in Falten.
„Doch jetzt wird es mir auch nichts mehr bringen... Denn er ist tot... Ich habe ihn... Umgebracht."
„Ja! Verdient! Hast du gesehen, wie er Jin zugerichtet hat?"
Als er Letzteres aussprach, gab Yesung wieder einen jammernden Ton von sich.
Der Gedanke an Seokjin und seinen zitternden, kalten Körper und seiner heftigen Abwesenheit, obwohl er deutlich bei Verstand gewesen war, jagte ihm eine heftige Gänsehaut über den ganzen Körper.
Er war zur keiner Sekunde wirklich ansprechbar gewesen, kein Schütteln, kein Wort hatte ihn aus seiner seltsamen Trance irgendwie befreien können.
Ein Zustand, zu dem er genauso viel beigetragen hatte, wie Yesung.
Keiner von ihnen beiden war zu keinem Zeitpunkt je unschuldig gewesen und er wusste nicht, inwiefern er sich dies je verzeihen könnte.
Namjoon konnte keinen einzig klaren Gedanken mehr fassen, ohne dabei an das Leid zu denken, welches er Seokjin zugefügt hatte. Was sie ihm beide gemeinsam entrissen hatten, mit ihrer unbändigen Eifersucht und dem unnötigen Machtkampf, welchen sie all die Monate über Aufrecht erhalten hatten, nur um ihr eigenes Ziel zu verfolgen.
Und damit nachhaltig ein ganzes Leben zerstört hatten.
Das Seokjin ihm die schmerzhaften Worte voller Hass und Enttäuschung entgegengeschleudert hatte, an jenem verheißungsvollen Abend in dem Hotelzimmer, waren mehr als verdient gewesen, auch wenn sie ziemlich gesessen hatten.
Doch hatte er es vermasselt und er mochte sich gar nicht vorstellen, welches Leid er ihm zugefügt hatte, denn bei jedem Gedanken daran, zog sich sein Magen krampfhaft zusammen. Bis er letztlich beinahe selbst das Bedürfnis empfand, sich über der Toilette zu übergeben. Und sich zitternd und keuchend neben Yesung auf den kalten Fliesenboden zu legen.
Sie hatten ihm alles entrissen, ihm alles genommen, wofür er so hart gearbeitet hatte. Inklusive seiner Würde, die mehr Wert war, als jeder Schulabschluss, oder all die Stunden, die er so intensiv mit Lernen verbracht hatte.
Es hatte so viele Momente gegeben, in denen er diesen Wahnsinn hätte stoppen können, oder sogar gemusst hätte.
Während er so völlig in Abwesenheit in dem inzwischen eiskalten Badezimmer stand und gedankenverloren seinen Blick auf Yesung geheftet hatte, welcher keuchend auf der Seite vor ihm am Boden lag, waren die Bilder vor seinem inneren Auge doch völlig andere.
Es waren wieder die tanzenden, bunten Lichter des Riesenrads, welche sich so magisch in Seokjins funkelnden Augen wiedergespiegelten hatten, die zu jenem Zeitpunkt noch so voller Leben und Mut gestrahlt hatten.
Oder als sie japsend in der Gasse gestanden hatten, nach ihrer ersten gemeinsamen Flucht aus dem Club. Als Seokjin vor ihm an der Wand gelehnt und er das erste Mal seit Wochen aufrichtig gelacht hatte. Dieses Lachen hatte ein wahnsinniges Feuer in ihm geschürt. Zusammen mit der Sicherheit, in welcher sie sich wiegen konnten und dem Lebenswillen, welcher in seine wunderschönen, großen Augen zurückgekehrt war.
Und der Kuss im Schnee, unter dem atemberaubenden Winternachthimmel, an welchem die Sterne so hell und scheinend über ihren Köpfen gestanden hatten. Es war ihr erster, richtiger Kuss gewesen und er würde ihn womöglich niemals vergessen. Das Gefühl nie vergessen, wie sich ihre kalten Lippen so voller liebevoller Zagheit berührt und sein Herz beinahe zum endgültigen bersten gebracht hatte.
Trotz all jener magischen Momente, welche sie geteilt hatten, hatte er ihn weiterhin belogen. Hatte Seokjin niemals die Wahrheit darüber gesagt, was er so offensichtlich die ganze Zeit zu verdrängen versuchte und gegen innere Dämonen heftige Kämpfe auszutragen schien. Und mit jedem Tag, welcher verstrich, immer mehr ein Teil von sich und diesem Krieg verlor.
Er hatte ihn einfach leiden lassen, seinem eigenen Wohl zuliebe.
Wie sollte er sich diesen Egoismus jemals verzeihen und sich selbst noch einmal in die Augen sehen können, wenn er in den Spiegel blickte.
Aus purer Langeweile und aus heftiger Neugier, hatte er Seokjins Naivität und Verliebtheit zuerst zu seinem Eigen gemacht, hatte ein wertloses Spiel mit ihm gespielt, ehe er wirklich verstanden hatte, was er fühlte.
Und er würde niemals den Moment der Erkenntnis vergessen, wie wichtig er ihm wirklich war, als er im Koma und an all diese piepende Maschinen angeschlossen in dem Krankenhausbett vor ihm gelegen hatte.
Wie und vor allem mit welchen Worten sollte er das Geschehene jemals wieder gut machen.
Nicht nur sein Herz hatte er gebrochen, mehr als einmal. Er hatte ihn aufs Übelste belogen, nur damit er einfach davon kommen würde. Damit er, verwöhnt wie er war, wieder den einfachsten Weg gehen konnte. Auf welchem er Seokjin im eiskalten Egoismus einfach verloren hatte, schon auf halber Strecke zum Ziel.
Und er war nie wirklich zu ihm zurückgekehrt, um ihm zu helfen und ihm die Hand zu reichen. Dieses Mal war er der Naive von ihnen gewesen und hatte tatsächlich angenommen, das Alles schon seinen Lauf nehmen würde.
„Komm schon, man! Reiss' dich wenigstens ein bisschen zusammen. Wir müssen versuchen einen klaren Kopf zu behalten!", redete Namjoon weiter beharrlich auf Yesung ein und packte ihn unter den Armen, um ihn mit seiner letzten vorhandenen Kraft irgendwie wieder auf die zittrigen Beine zu ziehen.
Sie saßen noch eine ganze Weile schweigend in Yesungs Zimmer, während die ersten Vögel schon fröhlich ihren Morgengesang durch den verschneiten Garten hinter dem Haus trällerten.
Auf der frostigen Schicht des weißen Schnees, welcher über Nacht gefallen war, schimmerte golden und beinahe friedlich das Licht der aufgehenden Sonne. Und der Himmel lag in einem erschreckend unschuldigen Rosa, durchzogen von orangenen Wolken und den ersten Farbflecken eines klaren, blauen Himmels.
Yesungs Gesicht wurde von einer Seite her mit diesem zarten Licht beleuchtet, die andere lag im Zwielicht seines dunklen Zimmers und sein Blick war ebenso seltsam leer, wie der von Seokjin auf ihrer Fahrt zum Krankenhaus.
Obwohl Namjoon mit ihm sprach, sah er nicht zu ihm auf, fixierte unerkennbare Punkte irgendwo in der Leere, welchen er mehr Aufmerksamkeit zu schenken schien, als seinen Worten.
Letztlich hatten sie so viel gemeinsam durchgestanden. Nur weil sie unerschütterlich zusammengehalten hatten, hatten sie diesen vollkommenen Wahnsinn überlebt.
Doch ein Teil in ihnen allen war in jener Nacht gestorben. Ein gewisser Funke von jugendlicher Unschuld.
Sie alle hatten dieser Grausamkeit direkt ins Auge geblickt. Und ohne lang darüber nachdenken zu müssen, wusste er, dass es sie alle nachhaltig verändern würde.
Das es seine Spuren und Konsequenzen davon tragen würde, die auf lange Zeit zu spüren sein würden.
Er konnte sich einfach nicht ausmalen, was jetzt kommen würde, was nun als nächstes passieren sollte und wie er überhaupt mit klarem Verstand im Hier und Jetzt bleiben sollte, um sich auf die Abschlussprüfungen zu konzentrieren. Ihm wohlwissen, das Seokjin in seinem leeren Zimmer daheim saß und nicht einmal an ihnen teilnehmen durfte, obwohl er dies am allermeisten von ihnen Dreien verdient hatte.
Tatsächlich schliefen sie irgendwann eine Weile.
Zumindest hatte er für einige kurze Augenblicke immer Mal wieder die Augen zugemacht und war in einen unruhigen Schlaf geglitten. Doch als er letztlich wieder aufgewacht war, saß Yesung so seltsam verloren immer noch im Schneidersitz da und starrte angespannt auf einen Punkt auf dem Fußboden. Namjoon folgte seinem Blick und versuchte den Punkt auszumachen, welchen Yesung so intensiv zu fixieren schien, doch er sah nicht mehr als die kleinen Lichtstrahlen, die sich wie schimmernde Fäden über den perfekt geputzten Parkettboden zogen.
„Da. Da ist es passiert...", sprach Yesung plötzlich, mit seltsam erstickter und schwacher Stimme und nun schien er mit dem Finger auf einem Punkt am Boden zu deuten, welchem er auch nach längeren hinsehen nichts Schlechtes abgewinnen konnte.
Und doch hatte er eine seltsame Vorahnung, von was er zu sprechen schien, weshalb er nervös die stickige Luft einsog.
„Ich bin mir bis heute nicht darüber klar, was in mich gefahren ist, als ich es getan habe... Diese Tat ist etwas, was ich mir womöglich niemals verzeihen kann. Was aus meinem tiefsten Abgründen entstanden ist. So unberechenbar und grausam. An manchen Tagen weiß ich nicht einmal, wie ich mit dieser Schuld leben soll, weil sie mich so auffrisst... Und das Schlimmste ist, dass ich ihn so sehr liebe und ich einfach nur wollte, das er wenigstens einmal mir gehört und dir wegnehmen..."
Namjoon sagte nichts zu seinen Worten. Er spürte nur, wie sich die Tränen in seinen Augen sammelten, als er auf den Fleck auf den Boden sah und sich versuchte vorzustellen, was damals im Sommer passiert sein musste. Dachte an Seokjins Worte darüber, dass er betrunken gewesen war und mit dem Hinterkopf auf den Boden aufgeschlagen, was ihn nur umso benebelter und machtloser hatte werden lassen.
Heftig schüttelte er den Kopf, um die Gedanken daran irgendwie abzuschütteln. Und die unbändige Wut und Hass auf Yesung und seine Tat, was so unausgesprochen die ganze Zeit zwischen ihnen zu stehen schien.
Sie sahen sich nicht an, eine ganze Weile nicht. Keiner sagte mehr ein Wort und er fragte sich, ob Yesung sein heftig rasendes Herz womöglich hören konnte.
„Ich will dir noch etwas geben." Waren schließlich seine Worte, als sie sich wenige Stunden später die Schuhe anzogen, um zum Krankenhaus zu fahren.
Verwundert blickte er zu Yesung auf, als dieser ihm etwas in einem Tuch eingewickelt entgegenstreckte. Es war schwer und kalt und als er die eine Ecke des Stoffs fragend beiseite klappte, entdeckte er die Pistole in seiner Hand, mit welcher zuvor ein Menschenleben beendet wurde.
„Was..? Was soll das, was soll ich-"
„Zu deinem eigenen Schutz. Du solltest diese Menschen niemals unterschätzen. Du warst viel zu sehr darin verwickelt, ich wollte niemals, dass es so eskaliert. Wollte niemals, das zwei weitere Menschen diesem Wahnsinn zum Opfer fallen. Ich kann nur vermuten, dass wenn auch nur einer von ihnen noch da draußen ist, sie nicht aufgeben werden. Sie werden nicht Ruhen, sie sind wie ein Rudel gefräßiger Wölfe und sie haben uns alle auf ihrem Radar."
Yesung streckte seine Hände aus und legte sie um seine eigenen, um das Tuch wieder zu schließen und mit einem gewissen Nachdruck drücke er sie, um zu verdeutlichen, wie ernst er seine Worte meinte.
Die Ernsthaftigkeit der Situation konnte er ihm auch so direkt aus seinen Augen ablesen, mit welchen er ihn so durchdringend anblickte, die Stirn besorgt in Falten gelegt.
„Nimm sie. Versteck sie. Und vertraue niemals mehr so einfach Fremden. Ich meine es ernst. Sie haben sich so in mein Umfeld gefressen und Menschen um mich herum vergiftet, mit ihren Worten. Sie sind absolut manipulativ und zu mehr fähig als du denkst. Besonders in Bezug darauf, was sie bekommen wollen."
Yesungs alarmierende Worte hingen ihm noch lange nach.
Selbst als dieser seinen Kopf auf seiner Schulter liegen hatte und offensichtlich endlich und nach all den Stunden eingeschlafen war.
Obwohl es in dem Flur vor dem Zimmer, in welchem sie saßen, so laut und beschäftigt war.
Ärzte mit wehenden Kitteln an ihnen vorbeistürmten, konzentriert auf ihre Klemmbretter starrend. Pfleger, die Menschen in Rollstühlen schoben, oder Schwestern, die von Zimmer zu Zimmer eilten und sich dabei angestrengt die Stirn mit dem Handrücken abwischten.
Er wusste nicht einmal genau, wie er seine Worte gemeint hatte. Auf was und welche Menschen er sie bezog. Und doch musste er immer wieder daran denken, wie viel der Boss über ihn gewusst hatte. Über ihn und seine Familie, das Krankenhaus seines Vaters und die womöglich damit zusammenhängenden Wirkstoffe, aus welchen sich lukrative Drogen herstellen lassen könnten.
War es noch nötig, der Polizei davon zu erzählen? Oder gar seinen Vater zu warnen. Oder konnte er sich in Sicherheit wiegen, denn er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie dieser Mann blutend zu Boden gegangen war.
Als eine Tür in der Ferne heftig ins Schloss fiel, saß Yesung atemlos und kerzengerade neben ihm und klammerte sich beinahe panisch an die Stuhllehnen. Er konnte deutlich den Schweiß der Anspannung auf seiner Stirn stehen sehen und wieder wurde Namjoon so deutlich bewusst, dass sie alle ihren Schaden davontragen würden.
Das sie nicht nur alle Monster gewesen waren, sondern auch Opfer jeglicher Grausamkeiten, die sie sich gegenseitig all die Zeit angetan hatten.
Es dauerte eine Weile, Yesung wieder zu beruhigen. Und Namjoon hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug, den dieser tat, er immer mehr den Ausdruck in seinen Augen zu verlieren schien. Er wusste nicht wieso, doch es bereitete ihm seltsame Sorgen.
Wie eine bestimmte Intuition, die ihm in jenem Moment erreichte, doch dessen Bedeutung er noch nicht verstand.
Als sie schließlich in Seokjins Zimmer gingen, schienen sie beide im ersten Moment zu zögern. Und er musste zugeben, dass es ein komisches Gefühl war, wieder zu Dritt zu sein.
So lang hatten sie gekämpft, hatten so viel durchgemacht und letztlich ihr Ziel erreicht. Doch der Preis war unwahrscheinlich hoch gewesen.
Seokjin lag vollkommen reglos da und seine Augen waren geschlossen. Sein Brustkorb schien sich sanft auf und ab zu bewegen und war das einzige Indiz dafür, dass er überhaupt noch am Leben war, denn er war immer noch so erschreckend blass.
Die piependen Gerätschaften um ihn herum, erinnerten ihn wieder an damals, an das Koma und die Prügelei hinter der Turnhalle im Herbst.
Namjoon spürte, wie er vor aufkommender Übelkeit kaum noch atmen konnte.
Wie damals hatte er einen furchtbaren Respekt vor der Situation und vor Seokjin und traute sich kaum, näher an sein Bett heranzutreten. Als hätte er seine Nähe überhaupt nicht verdient.
Er spürte all die schweren Worte, die mit jedem Schritt mitwogen und wie Blei auf seinen Schultern lagen und förmlich Knoten in seine Zunge schnürten.
Nicht einmal einen Anhaltspunkt hatte er, wo er überhaupt beginnen sollte, bei welcher Stelle. Geschweige denn, wie er ihm beibringen sollte, dass er nach Neuseeland gehen würde.
Bitten wollte er ihn. Dass er einfach mit ihm käme. Doch er wusste nicht, ob es nicht bereits zu spät für all dies war und er alles in Sand gesetzt hatte.
Realistisch gesehen wusste er nicht mal, wie das wirklich funktionieren sollte, doch es gab nichts zu jenem Zeitpunkt, was er mehr wollte, als mit ihm zusammen gehen zu können.
Sie standen beide seltsam hilflos vor dem Bett. In Yesungs Augen konnte er die pure Panik stehen sehen und er glaubte zu hören, dass dieser sogar für einen kurzen Moment aufgehört hatte zu atmen. Der Blick, den Yesung Seokjin schenkte, wirkte fast wie von allen guten Geistern verlassen und so absolut verzweifelt, dass es ihm merkwürdig schmerzhaft das Herz krampfte, als er den Ausdruck in seinen zusammengezogenen Pupillen sah.
Sie wechselten nicht mehr viele Worte miteinander und kaum viel länger hielt es Yesung auch nicht mehr in dem Raum aus, ehe er keuchend zurück zur Tür hinüberstolperte. Der Blick in seinen Augen immer noch so seltsam leer und erschrocken.
„Pass gut auf Seokjin auf...", nuschelte er ihm hinter hervorgehaltenen Ärmel zu und Namjoon zog fragend die Schultern hoch. Denn seine Worte klangen nach einer überraschenden Verabschiedung, die er nicht ganz zuordnen konnte, geschweige denn auf welchen Zeitraum sie sich beschränken würde.
„Könntest du ihm das hier geben, wenn er aufwacht? Es ist mir sehr wichtig, dass er ihn liest, ich habe so gut es ging versucht, mich irgendwie..."
Doch Yesung unterbrach sich schließlich selbst mitten im Satz und drehte ihm den Rücken zu, wollte bereits aus dem Zimmer huschen, nachdem er ihm hastig einen Brief in die Hand gedrückt hatte.
„Wir... Sehen uns dann spätestens im Januar, nach den Ferien, in der Schule. Ja?"
Tatsächlich schien seine Frage ihn in seiner Bewegung kurz aufgehalten zu haben.
Als sich Yesung nun langsam zu ihm herum drehte, weiteten sich nun seine Augen etwas vor Verwunderung, als er sein kleines Lächeln auf den Lippen liegen sah.
Seltsam friedlich und überraschend aufrichtig. Eine Gefühlsregung, die er bei ihm zuvor kein einziges Mal beobachten konnte. Und er sich fragte, was in jenem Moment in seinem Kopf vorging, dass es diese Reaktion in ihm auslöste.
Sie tauschten noch einen letzten, schweigenden Handschlag und nachdenklich musterte Namjoon für einen kurzen Augenblick ihre Hände und anschließend Yesungs lächelndes Gesicht.
Das Lächeln schien nur seine untere Gesichtshälfte zu betreffen und seine Augen nicht zu erreichen, die immer noch leer und so glanzlos in ihren Höhlen lagen.
Doch sein Lächeln war trotzdem ehrlich. Und ließ ihn das erste Mal so richtig ihre merkwürdige Verbindung spüren. Ihre komische unausgesprochene Freundschaft, die trotz aller Unannehmlichkeiten irgendwie funktioniert hatte.
Namjoon sah noch lang in die Richtung, in die Yesung das Krankenhaus verlassen hatte und irgendwo zwischen den vielbeschäftigten Schwestern und Ärzten letztlich verschwunden war.
Als Feinde waren sie gestartet, wollten sich gegenseitig das Handwerk legen und den jeweils anderen am Liebsten umbringen.
Er wog nachdenklich den seltsam schweren Briefumschlag in seiner Hand, auf welchem Seokjins Name stand.
Erst, als dieser einiges später in voller Hysterie aus dem Zimmer stürmte und kein Wort ihn hatte aufhalten können, hatte er jenen verheißungsvollen Brief gelesen.
Und somit viel zu spät erfahren, dass diese geschriebenen Worte ihr aller Leben für immer verändern würde.

MONSTER - the creatures we love pt. 1 | BTS NamjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt