Kapitel 23

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MONSTER – Kapitel 23 –

Namjoon erschien am Vormittag nicht in der Schule. Enttäuscht starrte Seokjin auf den leeren Tisch neben sich. Die Müdigkeit juckte ihm inzwischen unangenehm in den Augen, doch er wusste, dass wenn er seine Augen schließen würde, das er trotzdem nicht schlafen könnte. Er war viel zu angespannt und schien wie unter Strom zu stehen, obwohl er die letzte Nacht wahrscheinlich sehr wenig geschlafen hatte und das auch noch in einer ziemlich ungemütlichen Position. Sehnsüchtig erinnerte er sich an Namjoons furchtbar gemütliches und großes Bett mit den weichen Kissen, in dem er die letzten Nächte schlafen durfte. Und er sehnte sich nach diesem Gefühl der Geborgenheit was er empfunden hatte, als er bei ihm zuhause gewesen war. Er blinzelte ein paar mal angestrengt und schlug sein Arbeitsbuch auf, um wenigstens etwas Sinnvolles zu tun und zu versuchen, dem Unterricht irgendwie zu folgen. Doch er hatte so viel Stoff verpasst, das es ihm schwer viel, den Anschluss richtig zu finden. Umso verblüffter starrte er auf sein Buch, als er bemerkte, dass einige Zeilen mit Textmarker hervor gehoben waren. Als Seokjin genauer hinsah, erkannte er, das mit Bleistift einige Anmerkungen und Erklärungen zwischen die markieren Zeilen geschrieben worden waren und es war eindeutig Namjoons Handschrift. Verwirrt blätterte er durch das Buch und bemerkte, dass einige Seiten markiert waren und mit Erklärungen versehen worden waren. Schließlich fand er einen kleinen Zettel, der zwischen zwei Seiten lag und betrachtete ihn neugierig. Das Datum, welches klein in die Ecke geschrieben worden war, verriet ihm, das Namjoon den Zettel geschrieben haben musste, als er noch im Koma gelegen hatte. Er musste ihn eindeutig vergessen haben, denn es schien eine Art Notiz oder vielleicht auch Brief zu sein, der jedoch nie vollendet wurde. Einige Worte waren durchgestrichen, andere überschieben worden. Seine Handschrift war ziemlich unordentlich, als wäre er sich selbst nicht sicher darüber gewesen, was er gerade zu Papier brachte. Es war fast so, als könnte er Namjoon vor seinem inneren Auge sehen. Wie er um Worte rang und sich immer wieder selbst unterbrach, weil er seine Sätze immer wieder zu überdenken schien. Er hatte es so oft bei ihm bemerkt, wie unsicher er mit dem war, was er sagen wollte. Seokjin wusste, das Namjoon einige male angesetzt hatte, um sich offensichtlich bei ihm zu entschuldigen. Seokjin war sich nicht sicher, an wen Namjoon seine Worte adressiert hatte, doch er spürte deutlich durch seine geschriebenen Worte seine sensible Seite zu ihm sprechen, die er nur allzu gern überspielte.

‚Du bist so viel besser als ich. Du bist so viel stärker und so viel mutiger. Du kannst du selbst sein, ohne Angst zu haben. Du kannst all die Gefühle zulassen, die man dir auf wundersame Weise so perfekt aus den Augen ablesen kann. Ich kann dir nicht sagen, was ich denke und fühle, weil ich nicht ehrlich mit mir selbst sein kann. Du magst vielleicht viel von mir halten, aber ich tue es nicht. Und nun hasse ich mich, weil dieses Leuchten in deinen Augen einfach erloschen ist. Dieser ehrliche Funke voller Emotionen ist einfach verschwunden und es ist meine Schuld. Es tut mir so leid, dass Worte erst mal dafür erfunden werden müssten, damit ich mich aufrichtig entschuldigen kann. Denn kein Wort, welches mir geläufig ist, reicht auch nur ansatzweise aus um dir zu sagen, wie sehr ich mich hasse und es mir leid tut. Ich hoffe sehr, dass ich irgendwann mutig genug bin, dir zu sagen was ich wirklich über dich denke. Egal, ob wir vielleicht nicht mal mehr miteinander sprechen oder du mich bis dahin meiden wirst, egal wie viel Zeit vergehen muss, bis ich endlich ehrlich mit mir selbst sein kann. Aber ich werde es dir irgendwann sagen, das ist das mindeste was ich tun kann'

Mehr stand nicht auf dem Zettel, beziehungsweise der Rest des Textes fehlte, denn die Seite schien unten abgerissen zu sein. Seokjin hatte länger gebraucht, um die Handschrift richtig zu entziffern und es war so viel durchgestrichen worden, das es zuerst schwierig war, den Zusammenhang der Sätze zu erkennen. Diese paar Textzeilen waren das genaue Gegenteil von dem, was er jemals in Namjoons Handschrift erwartet hätte. Nachdenklich faltete er ihn zusammen und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seokjin fragte sich, ob Namjoon die letzten Wochen tatsächlich damit verbracht hatte, Anmerkungen in seine Textbücher zu schreiben, damit er den Unterrichtsstoff besser verstehen konnte, wenn er wieder aus dem Koma aufwachen würde. Die Vorstellung machte ihn glücklich und traurig zugleich. Denn er hatte wieder das Bedürfnis, Namjoon alles zu offenbaren, was er fühlte und wie seltsam entzweit er sich fühlte, wenn er ihn nicht um sich hatte. Er wollte ihm alles sagen und sich von der Seele reden, ohne dabei betrunken zu sein und danach wieder alles zu vergessen. Doch er konnte nur ahnen, wie überfordert Namjoon womöglich darauf reagieren würde. Und die geschriebenen Worte, ob sie nun an ihn gerichtet waren oder nicht, zeigten ihm was für einen inneren Kampf Namjoon mit sich auszutragen schien. Und wie wenig er von sich selbst hielt. Als die Stunde vorüber war und die Schulglocke läutete, blieb er noch eine Weile sitzen. Die anderen Schüler hatten schon längst den Klassenraum verlassen und das Licht ausgeschaltet, doch er saß immer noch auf seinem Platz. Seokjin tat dies aber mehr als eine Art Vorsichtsmaßnahme, denn als er schließlich zum Schulflur hinaus ging, hatte die nächste Stunde schon längst angefangen. Er wollte einfach verhindern, dass er Yesung eventuell über den Weg lief. Allein nur die Vorstellung daran ließ die Angst wieder in ihm hinauf kriechen. Die Tatsache, das er den ganzen Sommer über irgendein anderes Leben geführt hatte, an das er sich nicht mehr erinnerte, löste ein so unangenehmes Gefühl in ihm aus. Es war so seltsam und grotesk und er fühlte sich allein bei dem Gedanken an Yesung eigenartig gefangen, als würde er ihn permanent festhalten und ihn in eine Richtung ziehen, in die er gar nicht gehen wollte. Instinktiv fuhr sich Seokjin wieder mit dem Ärmel über seine Lippen, welche Yesung ungefragt mit seiner Zunge berührt hatte. Bis zu jenem Moment hatte er immer noch das Gefühl, er könnte seinen Speichel einfach nicht abbekommen und das trieb ihn beinahe in den Wahnsinn. Und er hatte ein seltsam schlechtes Gewissen. Wie könnte er mit diesen Lippen jemals jemand anderen küssen, denn sie fühlten sich so beschmutzt an. Unsicher ging Seokjin durch den leeren Korridor und blickte sich immer wieder um, obwohl er sich eigentlich sicher sein konnte, das Yesung gerade in einem der Klassenräume sitzen würde. Doch seine Schritte wurden in der plötzlichen Panik immer schneller, bis er zu rennen schien und sein angestrengter Atem ein heftiges Stechen in seinen Rippen verursachte. Und trotzdem hielt er nicht an, lief mit schnellen Schritten über den verlassenen Schulhof. Der Himmel war bedrückend grau und es war furchtbar kalt. Doch er trug Namjoons Wollschal, der ihn nicht nur vor der Kälte schützte, sondern der vertraute Geruch, der an dem Stoff haftete ihn auch irgendwie beruhigte. Seokjin ließ die Schule schließlich hinter sich und sah sich noch einmal ängstlich um, doch er war allein und niemand schien ihm zu folgen.

MONSTER - the creatures we love pt. 1 | BTS NamjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt