Kapitel 43

109 18 11
                                    

MONSTER – Kapitel 43 –

Es war kalt und der Schneematsch hatte inzwischen seine kompletten Schuhe durchnässt und Seokjin versuchte angestrengt, sich an den richtigen Weg zu erinnern. Sein Handyakku hatte ihn komplett in Stich gelassen, doch er hatte beschlossen, direkt zu Namjoon nachhause zu gehen, um sicher zu gehen, dass mit Kyungmin alles in Ordnung war. Er wunderte sich immer noch über Tatsache, dass sie ausgerechnet ihn angerufen hatte. Sie war Fünfzehn, sie hatte bestimmt einige andere Freunde, die sie hätte um Hilfe bitten können. Doch seine Besorgnis hatte schließlich überhand gewonnen, als er sich entscheiden musste, ob er den Weg aus der Stadt raus nehmen würde, um nachhause zu gehen, oder ob er ins Zentrum laufen würde, um nach Kyungmin zu sehen. Nachdem Yesung abgehauen war und er seine Sachen zusammengesammelt hatte, musste er feststellen, dass es bereits später Nachmittag gewesen war. Er hatte tatsächlich fast den ganzen Tag verschlafen, aber vielleicht hatte er diese Zeit gebraucht, denn seine Schlafstörungen waren beinahe unerträglich gewesen, seit Namjoon weg war. Jedoch war er auch erleichtert darüber, dass der Tag nun fast vorüber war und er sich nicht großartig mehr mit seinem Geburtstag herumschlagen musste, denn er hasste diesen Tag so sehr. Seokjin blieb ein paar Mal leise fluchend stehen, denn seine Füße waren inzwischen so kalt, dass er sie kaum noch spüren konnte. Er trug die guten Schnürschuhe und die Schuluniform nun schon seit einem Tag. Seit er gestern ihn und Yesung in ziemliche Schwierigkeiten gebracht hatte und diese Typen sie verschleppt hatten. Er musste furchtbar aussehen, denn er merkte, dass einige Leute sich verwundert nach ihm umdrehten, als er durch das vornehme Viertel lief, in dem Namjoon wohnte. In seiner Eile hatte er sich nicht mal mehr die Mühe gemacht, sein Hemd in die Hose zu stecken und die Uniform war vom Schlafen ziemlich zerknittert. Sie waren heute nicht mal in der Schule erschienen, Yesung hatte ihn einfach schlafen lassen, so vollkommen selbstlos. Seokjin fühlte sich so elendig, dass er Yesung in diese Situation gebracht hatte und ihn beschlich wieder das seltsame Gefühl, dass er für jeden nur eine Last zu sein schien. Für seine Eltern, für Namjoon, ja selbst über Yesung schien er nur Unheil zu bringen. Tatsächlich hatte er sich ein paar misstrauisch umgedreht und die Straßen nach potenziellen Verfolgern abgesucht und jedes Auto mit verdunkelten Scheiben schien ihm inzwischen verdächtig vorzukommen. Er spürte, wie sehr er schwitzte, durch die heftige Anspannung und die Panik, die ihn auf seinem Weg begleitete. Zum erneuten Male fragte er sich, wie Yesung wohl an so etwas Gefährliches wie eine Waffe gekommen sein konnte. Er hatte versäumt ihn darauf anzusprechen, denn er hatte dafür nicht mal die richtigen Worte gefunden. Musste er sich Sorgen machen, dass er eventuell noch weitere Leichen im Keller hatte? Irgendwie war er immer wieder zu einer Überraschung gut und genau diese undurchschaubare Art machte ihn so seltsam gefährlich. Dabei schien Yesung eigentlich ein ganz anderer Mensch zu sein, sehr aufmerksam, was sein Umfeld anging und erstaunlich sensibel. Seokjin blieb einen kurzen Moment stehen und blickte in den dunklen Himmel, von welchem still und leise wenige Schneeflocken herabfielen. Sie wurden durch den eisigen Sturm sanft aufgewirbelt und tanzten unschuldig im orangenen Licht der Straßenlaternen. Als er schließlich das Gebäude erreichte, in dem Namjoon mit seiner Familie residierte, betrachtete er nachdenklich die Bauwerkskunst von grauem Beton und Glas. Viele der riesigen Scheiben waren hell erleuchtet. Manche der Apartments hatten bereits ihre Weihnachtsdekoration herausgeholt und feierlich aufgehängt. So oft hatte er sich schon gefragt, was für Menschen und Familien in all diesen Luxuswohnungen lebten, was ihre Geschichten waren und wie einfach das Leben wohl für sie sein mochte. Seufzend betätigte er schließlich die Klingel mit Namjoons Apartmentnummer und nach einer kurzen Weile gab ihm ein surrender Ton den Weg ins Innere frei. Er folgte dem Korridor mit dem edlen Marmorboden und stieg in den Fahrstuhl, um hinauf ins einundzwanzigste Stockwerk zu fahren, dort, wo Namjoon hoch über der Stadt mit seiner Familie so glücklich und behütet zu leben schien. Es kam ihm fast wie eine halbe Ewigkeit vor, dass er zuletzt hier gewesen war. Dabei waren es genau genommen eigentlich nur neun Tage, in welchen sie sich nicht gesehen und nicht gesprochen hatten. Während er in dem stillen Fahrstuhl stand und eindringlich sein eigenes Spiegelbild betrachtete, erinnerte er sich wieder unfreiwillig an den gestrigen Tag. Er dachte an Hana und fragte sich, inwiefern die Sache wohl für sie ausgegangen sein mochte und ob diese finsteren Typen wohl das bekommen hatten, was sie wollten. Seokjin starrte in sein eigenes Gesicht und er musste feststellen, dass er schon bessere Tage gesehen hatte. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, doch das Erste, was ihm wieder in den Kopf schoss, war der Pistolenlauf, welcher so bedrohlich auf sie gerichtet worden war. Und er so heftig um sein Leben gefürchtet hatte. Zuerst hatte er wirklich geglaubt, es wäre nun vorbei für sie. Dass sein kurzes, unerfülltes Leben nun vorzeitig sein Ende finden würde. Seine Gedanken schweiften etwas ab und die Besorgnis kroch langsam in ihm hoch, denn er fürchtete, dass Yesung eventuell in viel heftigeren Schwierigkeiten steckte, als er angenommen hatte. Als ihn seine Worte, über den endgültigen Sprung in den Tod, wieder erreichten, öffnete er ziemlich abrupt die Augen und kurzzeitig versiegte sein Atem vollständig. Doch der Fahrstuhl kam schließlich sanft zum Stehen und die Türen glitten beinahe lautlos vor ihm auf und gaben den Weg in das Treppenhaus frei. Als er hinaus schritt, konnte er sich nur zu gut wieder an ihre letzte Auseinandersetzung erinnern und er schluckte schwer, als er nun direkt vor der angelehnten Wohnungstür stand. Dort, wo sich ihre Wege zuvor so unglücklich getrennt hatten. Er zögerte eine kurze Weile, ehe er zittrig die Hand ausstreckte und der Tür einen leichten Stoß gab und sie öffnete. Zu seinem Erstaunen war niemand da, der ihn erwartete, obwohl ihm geöffnet worden war. Und der Flur lag in vollkommener Dunkelheit, nur das Licht des Treppenhauses fiel mit einem langen Strahl über den edlen Holzboden.

MONSTER - the creatures we love pt. 1 | BTS NamjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt