Kapitel 13

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MONSTER – Kapitel 13 –

Namjoon war ausnahmslos jeden Tag gekommen. Er war stets jeden Tag der Erste, der beim letzten Klingeln des Schultags aus dem Klassenraum lief und anschließend Seokjins Hausaufgaben bei allen Kursen abholte, die sie nicht zusammen hatten. Danach übersprang er jegliche Nachmittagsclubs und fuhr direkt mit seinem Fahrrad zu ihm. Die Stationsschwestern hatten sich bereits an ihn gewöhnt und schenkten ihm keine verwunderten Blicke mehr, wenn er völlig gedankenverloren durch den Flur stürmte und offensichtlich an keinem Tag bisher bemerkt hatte, dass man ihn grüßte. Ein paar Mal hatten sie ihn gefragt, ob er vielleicht etwas zu Essen oder zu Trinken haben wollte, denn sie meinten, er wäre jeden Tag so blass und er wirke so gestresst, aber Namjoon lehnte jegliche Aufmerksamkeit ab. Es sollte nicht um ihn gehen, einzig und allein Seokjin sollte es so angenehm wie möglich haben.

Namjoon kam direkt nach der Schule und manchmal auch vor der Schule und nutzte jede Minute der Besuchszeit, bis er von einer der Schwestern darum gebeten wurde, nach Hause zu gehen. Und jeden Abend mussten sie ihm mehrmals versprechen, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn sich irgendetwas an seinem Zustand ändern sollte. Egal wie früh oder spät es in der Nacht sein sollte. Er verbrachte seine ganze Freizeit in dem kleinen Zimmer mit den gelb gestrichenen Wänden. Manchmal fragte er sich, wie Seokjin die Farbe gefallen würde. Und er fragte sich, welche Lieblingsfarbe er wohl hatte. An dem kleinen Tisch am Fenster erledigte er seine Hausaufgaben und das Piepen der Maschinen, an die er angeschlossen war, beeinträchtigten ihn inzwischen nicht mehr in seiner Produktivität. Nach Neun Tagen schließlich traute er sich das erste Mal, sich auf den Stuhl vor Seokjins Bett zu setzten.

Sein schlechtes Gewissen war bisher immer stärker gewesen und es war ihm so furchtbar unangenehm, direkt in seiner Nähe zu sein. Seokjin war nicht mal bei Verstand und trotzdem schaffte er es kaum, ihn anzusehen. Wenn er nachts in seinem eigenen Bett lag und die Augen schloss, quälte ihn sein Schuldgefühl mit den Bildern von seinem blutüberströmten Körper, der erbarmungslos vom Regen durchnässt wurde. An das blasse Gesicht, aus welchem jegliches Leben entschwunden war, als wäre es mit dem Schnee davon gespült worden. Am schlimmsten war es, wenn er mitten in der Nacht aufwachte, schweißgebadet und Seokjins gequälten Schmerzensschreie hörte, als dieser Kerl so erbarmungslos auf ihn eingetreten hatte. Seine eigene Schwäche und das er es nicht geschafft hatte, ihm irgendwie zu helfen, widerte ihn zutiefst an.

Als Namjoon vor seinem Bett saß, blickte er in seine zitternden Handflächen. Es fühlte sich so an, als würde sein Blut immer noch an seinen Fingern kleben und egal wie oft er sie wusch, es ließ sich einfach nicht entfernen. Als wollte ihm sein Unterbewusstsein ständig darauf aufmerksam machen, das es seine Schuld war. Das es erst so weit kommen musste, bis er endlich angefangen hatte, über sich selbst und die Situation ernsthaft nachzudenken und die Tatsache zu akzeptieren, das Seokjin so hoffnungslos in ihn verliebt gewesen war, all die Zeit über. Und er es einfach eiskalt ignoriert hatte, weil er so furchtbar feige war. Langsam hob er den Blick und sah nun das erste Mal seit Tagen direkt in Seokjins Gesicht. Sein Haar war ziemlich wirr und nicht, wie sonst immer, gepflegt und glänzend. Seine Lippen sahen trocken aus und seine Haut war immer noch erschreckend blass. In seine Nase führten zwei Schläuche, ebenso führte ein weiterer zu einem Anschluss in seinen Arm. Durch das durchsichtige Material konnte er beobachten, wie eine Flüssigkeit langsam von einem Tropf durch den Schlauch hindurch lief und schließlich in seinem Arm verschwand. Das Piepen des EKGs war seit Tagen das selbe, keinerlei Änderungen, keinerlei Anzeichen eines eventuellen Aufwachens oder auch nur eine Regung seines Körpers. Wenn er wieder nachts nicht schlafen konnte, saß er an seinem Fenster und blickte auf die blinkenden Lichter der Stadt, manchmal bis die Sonne bereits am Horizont erschien und einen neuen Morgen ankündigte und die ersten Lichter in den vielen Wohnungen angeschaltet wurden. Namjoon dachte dann darüber nach, was er zu Seokjin sagen sollte, wenn er endlich seine Augen aufschlug. Wie er ihm das Ganze erklären sollte. Fragte sich, mit welchen Worten er sich am Besten entschuldigen konnte. Tatsächlich hatte er schon einige Briefe verfasst, hatte sie alle letztlich aber doch wütend verworfen und sein Mülleimer war inzwischen unter einem Haufen von zerknülltem Papier verschwunden. Nichts war gut oder ausreichend genug, um sich jemals richtig entschuldigen zu können. Was sagte man schließlich zu Jemandem, den man fast umgebracht hatte? Manchmal versuchte er sich auszumalen, was Seokjin wohl zu ihm sagen würde. Die letzten Worte, die sie wirklich gewechselt hatten, waren eher ein Monolog gewesen. ‚Warum bin ich nicht liebenswert?' hatte Seokjin ihn mit schluchzender Stimme zuletzt gefragt und er hatte nichts darauf zu erwidern gehabt. Namjoon streckte langsam seine Hand aus und berührte vorsichtig Seokjins Handrücken, doch als plötzlich die Tür geöffnet wurde, zog er sie schnell zurück und blickte verwundert über seine Schulter. Kyungmin war hinein gekommen, mit einem Stapel Bücher unter ihrem Arm und einem Strauß Blumen in ihrer Hand. Sie stellte eine Vase auf Seokjins Nachttisch und steckte die Blumen anschließend hinein und wand sich dann endlich an ihn.

MONSTER - the creatures we love pt. 1 | BTS NamjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt