Kapitel 15

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„Lily, hast du den Aufsatz für Verteidigung gegen die dunklen Künste schon fertig?" Total abgehetzt und nach Luft schnappend ließ Aaron sich neben mir auf die schwere Holzbank in der Großen Halle fallen. Ich sah ihn belustigt an und er lächelte mit einem leichten Schmollen.
„Wo kommst du denn her?", fragte Ruby lachend. Wir hatten bis jetzt zusammen über unseren Verwandlungs-Unterlagen gesessen und den Stoff der letzten Wochen wiederholt.
„So ein blöder Zweitklässler hat neben mir irgendeinen von Weasleys Scherzen in die Luft gejagt und dadurch seinen und meinen Umhang abgefackelt", erzählte er mit einem Seufzen. Ruby und ich lachten laut auf.
„Sowas kann auch echt nur dir passieren", grinste ich breit.
„Wie auch immer." Aaron verdrehte die Augen und suchte dann in einem kleinen Pergamentstapel, den er dabei hatte nach einem bestimmten Blatt. Erst als er ihn gefunden hatte, sah er wieder hoch.
„Habt ihr den Aufsatz fertig?", fragte er dann noch einmal und sah uns hoffnungsvoll an.
„Ja, gib her, ich les mir deinen durch." Ich schnappte mir sein Pergament und griff nach meiner Schreibfeder, ehe ich damit begann, mir seinen Text durchzulesen und immer wieder etwas zu korrigieren.
„Du bist ein Schatz, Lily!", strahlte Aaron breit. Ruby verdrehte nur die Augen und vertiefte sich wieder in Verwandlung.

Ich hatte Aaron bereits gestern versprochen, dass ich seinen Aufsatz für Professor Morring gegenlesen würde. Er war der Meinung, dass dafür durch das Quidditch-Training morgen viel zu wenig Zeit war und hatte deshalb so lange gebettelt, bis ich zugesagt hatte.
Doch jetzt nach gerade einmal drei Sätzen, die ich mittlerweile bereits korrigiert und umgeschrieben hatte, wurde mir erst wirklich bewusst, dass ich den Aufsatz quasi noch einmal schrieb.

„Lily", raunte Ruby mir nach etwa einer halben Stunde zu. „Da drüben ist Professor Snape!" Kaum hatte sie das gesagt, schaute ich abrupt von Aarons Pergament auf und sah mich suchend im Raum um. Und tatsächlich. Dort an der großen Eingangstür stand Snape und sprach mit Professor McGonagall. Er sah noch immer etwas blass aus, also noch blasser als sowieso schon, aber ansonsten schien er sich wieder erholt zu haben. Von der großen Wunde am Kopf war keine Spur mehr und auch sein Gang war genau wie immer. Er schlenderte neben der Schulleiterin durch die Gänge zwischen den Haustischen und ermahnte ab und an ein paar Erstklässler. Es wirkte beinahe so wie immer. Inzwischen war der Kampf mit Zaharia zwei Wochen her und es erfüllte mich mit Glück, ihn endlich wieder wohlauf zu sehen.

„Du solltest mit ihm reden, Lily", flüsterte Aaron mir zu. Auch Ruby lehnte sich jetzt über den Tisch hinweg zu uns rüber.
„Und was soll ich ihm sagen? Jetzt, wo ich Ihr Leben gerettet habe, sagen Sie mir gefälligst die Wahrheit?", fragte ich ironisch.
„Natürlich nicht! Aber Snape wird dir schon irgendwas zu sagen haben", beharrte Ruby.
„Du könntest das Buch mitnehmen", schlug Aaron da vor. Ich sah ihn erschrocken an. „Du hast es doch bestimmt dabei. Du schleppst es immerhin Tag und Nacht mit dir rum. Wenn du ihm das Tagebuch unter die Nase hältst, muss er darauf irgendwie reagieren."
„Aaron, er wird mich aufspießen, wenn er weiß, dass ich es gelesen habe! Was glaubst du..."
„Halli Hallo, na, was wird hier getuschelt? Gibt es Neuigkeiten?" Wir schraken alle drei mit einem erstickten Schrei auseinander, als mitten im Tisch plötzlich der Fast Kopflose Nick erschien. Er war aus dem Boden und halb durch den Tisch geschwebt. Man sah von ihm nur seinen Kopf und den Oberkörper bis etwa zu den Ellenbogen.
„Sir Nicholas, erschrecken Sie uns doch nicht immer so", schmunzelte ich und holte meine Feder unter dem Tisch hervor, die mir gerade runter gefallen war.
„Nur so komme ich an gute Neuigkeiten, meine Liebe. Erzählt mir, was ihr geredet habt." Nick versuchte streng zu klingen, aber sein Lächeln milderte seine Aussage wieder.
„Wir haben gerade darüber gesprochen, dass Professor Snape wieder da ist", erzählte Ruby ihm wahrheitsgemäß.
„Oh ja! Das ist richtig. Dank unserer kleinen Heldin hier hat er alles gut überstanden. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Travis mit ihm alleine gewesen wäre." Er nickte mir mit einem strahlenden Lächeln zu.
„Travis?", fragte ich interessiert nach.
„Ganz richtig. Zaharia Travis hat in der großen Schlacht um Hogwarts an der Seite von Ihr-wisst-schon-wem gekämpft. Er war einer seiner treusten Anhänger", erklärte Nick in gesenktem Ton.
„Ja, er hat davon gesprochen, dass Snape für Voldemorts Tod büßen soll", murmelte ich nachdenklich.
„Er ist vor einem halben Jahr aus Askaban entkommen und seitdem jagt er alle, die den Dunklen Lord verraten oder verlassen haben."
„Aus Askaban? Wie hat er das geschafft?", fragte nun auch Aaron interessiert.
„Das ist bis jetzt unklar. Aber vielleicht..."

„Sir Nicholas, bitte, kommen Sie aus dem Tisch hervor", erklang da Professor McGonagalls entrüstete Stimme. Der Fast Kopflose Nick seufzte, verneigte sich dann aber noch einmal kurz vor uns, ehe er ans andere Ende des Gryffindor-Tisches verschwand.
„Miss Grimmauld, Professor Snape wünscht Sie zu sprechen", wandte sie sich dann an mich und schaute mir mit einem kleinen Lächeln in die Augen.
„Natürlich, Professor", murmelte ich und war erleichtert, dass sie sofort weiter ging.

„Was mache ich denn jetzt?", flüsterte ich meinen Freunden zu und sah sie etwas panisch an.
„Nimm das Buch mit", beharrte Aaron und kramte es aus meiner Tasche hervor.
„Nicht so offensichtlich, Aaron. Gib es her!" Ich riss ihm das Tagebuch beinahe aus der Hand und verstaute es dann schnell in einer Innentasche meines Umhangs.
„Lass ihn erst einmal reden, Lily. Wer weiß, was er von sich aus erzählt", riet Ruby mir noch, während ich aufstand und etwas nervös in Richtung Slytherin-Tisch sah, wo Snape gerade einem Schüler sein Pergament über den Kopf zog.
„Du bist die Mutigste von uns allen, du schaffst das." Ruby lächelte breit. Ich konnte darauf nur ein klägliches Lächeln erwidern und blieb dann stocksteif neben meinen Freunden stehen, während Professor Snape auf mich zu kam.

Ich konnte seinen Gesichtsausdruck mal wieder überhaupt nicht deuten. Er war so undurchdringlich wie immer, als er vor mir stehen blieb.
„Grimmauld, folgen Sie mir", meinte er dann nur und schritt an mir vorbei zurück zur Eingangstür der Halle. Ich warf meinen Freunden einen letzten verzweifelten Blick zu. Dann schlich ich hinter Snape her und folgte ihm mit schnellen Schritten in die Kerker.

Auf dem Weg dorthin kicherten ein paar jüngere Slytherin, die vor ihrem Gemeinschaftsraum herumlungerten und uns beobachteten. „...bestimmt Hauspunkte abgezogen", meinte ich, aus ihrem Gekicher heraus zu hören.
Ich ignorierte sie geflissentlich, doch als Snape ohne Vorwarnung seinen Zauberstab schwang und damit einem der Schüler die Krawatte etwas zu eng zusammen schnürte, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Der Junge zerrte an der Krawatte, bis er wieder Luft bekam und lief dann so rot an wie eine Tomate.

Schließlich waren wir im Klassenzimmer für Zaubertränke angekommen. Snape hielt mir wortlos die Tür auf und ich trat in den Raum hinein, den ich seit dem Vorfall vor zwei Wochen nicht mehr betreten hatte. Inzwischen sah hier alles aus wie früher, als wäre nie etwas gewesen. Dennoch bekam ich eine Gänsehaut und dachte sofort wieder an den Tag zurück, da wir hier dem Tode nahe auf dem Boden gelegen hatten.
Snape schloss die Tür und lief nach vorne zu seinem Pult. Dort angekommen drehte er sich schwungvoll zu mir um und schaute mich noch immer so berechnend an.
Ich schwieg und wartete einfach ab, bis er irgendwas sagen würde, obwohl sich Ungeduld und ein leichter Zorn in mir breit machten. Jetzt war definitiv nicht der Zeitpunkt, um irgendwelchen kindlichen Hass auf einen Lehrer zu hegen. Diesen Punkt hatte ich schon lange überschritten, seit mich nur noch diese eine Frage plagte.

„Sie bekommen zehn Hauspunkte für Gryffindor abgezogen, Grimmauld, weil Sie sich einem Lehrer widersetzt haben", erklärte Snape schließlich mit völlig ruhiger Stimme.
„Aber, Professor..." Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Abgesehen davon war das absolut unberechtigt und super unfair. Immerhin hatte ich ihm sein verdammtes Leben gerettet! Der Zorn in mir brodelte sofort stärker auf.
„Ich habe Ihnen ja wohl deutlich gemacht, dass Sie sich nicht in den Kampf einmischen sollten", redete Snape weiter.
Ich öffnete schon den Mund, um ihm zu widersprechen, doch Snape schnitt mir mit einer einzigen Handbewegung das Wort ab.
„Allerdings würde ich jetzt wohl nicht mehr hier stehen, wenn Sie sich nicht unerlaubt in meinem Klassenzimmer aufgehalten hätten. Seien Sie froh, dass aus Ihnen eine durchaus fähige und talentierte junge Hexe geworden ist, denn ansonsten hätten Sie den Kampf nicht überstanden, Grimmauld. Sie haben Mut und Können bewiesen. Einhundertzehn Punkte für Gryffindor." Snape machte eine kurze Pause und sah mich abwartend an. Der Zorn in mir flachte wieder ab und erlosch schließlich.
„Danke, Professor, ich..."
„Warum waren Sie in diesem Raum?", unterbrach er mich gleich wieder.
„Ich..."
„Was auch immer es war, ich bin mir sicher, dass ich es gar nicht wissen will. Seien Sie froh, dass ich Ihnen dafür keine Hauspunkte mehr abziehe."
Erleichterung machte sich in mir breit. Ich musste Snape also doch nichts von meinem eigentlichen Vorhaben erzählen.
„Selbst wenn Sie mir Punkte dafür abgezogen hätten, Professor, ich würde es nicht bereuen, hier gewesen zu sein", sagte ich fest und schaute ihn unverwandt an.
„Sie sind zu Recht in Gryffindor gelandet, Grimmauld. Den Mut kann man Ihnen nicht abstreiten. Ich sage es nicht gerne, aber ich bin Ihnen dankbar. Und jetzt verschwinden Sie." Snape öffnete durch eine Bewegung mit dem Zauberstab die Tür und drehte sich um.
Ich seufzte lautlos und verließ etwas enttäuscht den Raum.     

Snape - Sein letztes GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt