Kapitel 22

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Es war wirklich nicht leicht, in dieser Nacht in den Schlaf zu finden. Ich lag lange wach und drehte mich von einer Seite auf die andere. Wieso hatte er seine Meinung nur so plötzlich geändert? Er war so verändert gewesen, nachdem ich ihn auf all das angesprochen hatte. Snape hatte mir sogar Vielsaft-Trank gegeben und mich in den Gemeinschaftsraum seines Hauses einbrechen lassen. Dann hatte er mir gestanden, wie viel ich ihm doch bedeutete, hatte mich zu Harry ins Ministerium gehen lassen. Und jetzt war mit einem Mal wieder alles anders? Er konnte doch nicht von jetzt auf gleich seine Meinung um hundertachtzig Grad geändert haben.
Doch ganz egal wie lange ich da noch lag und grübelte, ich fand keine Erklärung dafür, warum Severus Snape plötzlich wieder so kalt und unnahbar mir gegenüber war. Ich verstand es einfach nicht.

Der Sonntag ging nur schleppend voran. Eigentlich liebte ich das Wochenende, aber dieses Mal hätte ich lieber sechs Stunden Zaubereigeschichte bei Professor Binns hintereinander gehabt. Die Zeit wäre schneller vergangen.
So saß ich nur trübsinnig in der Bibliothek von Hogwarts und begann inzwischen zum sechsten Mal den Zaubertrank-Aufsatz für morgen. Egal was ich schrieb, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren und brachte nur irgendeinen Schwachsinn auf mein Pergament. Das war Snape durchaus von mir gewohnt. Aber die kleinen Kreise, in denen die Tinte verwischte und einzigartige Muster auf das Papier malte, musste er nicht sehen. Deshalb fing ich immer wieder von Neuem an, bis eine weitere Träne die schwarze Tinte zerrinnen ließ.

Langsam hatte ich das Gefühl, mein Herz würde dieses ganze Chaos und das ständige Hin und Her nicht mehr lange mitmachen. Fast sechzehn Jahre lang hatte ich mich gefragt, wer meine Eltern waren. Für viele Kinder war der Vater immer der Held, das große Vorbild. Ich hatte keinen gehabt. Und dann kam ich hier her nach Hogwarts und erfuhr erst nach fünf Jahren, dass mein Lehrer eben diese Person war. Die Person, die mein Held und Vorbild sein sollte. Er hatte sich mir schließlich geöffnet, hatte mir so tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt gewährt, hatte mir geholfen und mir Zuversicht geschenkt.
Und mit einem Mal entriss er mir all das wieder. Dieser noch so junge, wild schlagende Teil meines Herzens war noch so neu und verwundbar, dass es jetzt um so mehr schmerzte, dass er ihn mir mit Gewalt wieder entrissen hatte. Jetzt blutete mein Herz, kaum dass ich an ihn dachte. Und das tat ich ununterbrochen, weil ich keinen anderen Gedanken finden konnte.

„Bist du bereit dafür?", fragte Penny am nächsten Morgen leise, als wir vor dem Klassenzimmer für Zaubertränke warteten.
„Nein", hauchte ich zurück und sah sie bedrückt an. Am liebsten hätte ich mich jetzt in unseren Schlafsaal verzogen, mich in die Decke vergraben und einen Becher widerlichen Löwenzahntee von Hagrid getrunken.
„Du könntest sagen, du seist krank", murmelte sie und sah verstohlen zu Ruby hinüber, die Penny erschrocken ansah.
„Das hätte mein Vorschlag sein sollen. Du bist hier die Korrekte", grinste sie Penny an. „Nein, mal ehrlich, Penny hat Recht. So blass wie du heute bist, würde man dir das sofort abnehmen."
„Ich hab nur schlecht geschlafen. Das geht schon." Ich sah zu Boden und ignorierte dann, was die zwei sagten.

Ich schaute erst wieder hoch, als Professor Snape auf uns zu rauschte, die Tür aufschwang und sich alle Schüler hinter ihm ins Klassenzimmer drängten. Schweigend nahm ich meinen Platz ein und holte mein Exemplar von Zaubertränke für Fortgeschrittene hervor.
„Schlagen Sie Ihre Bücher auf. Seite 267. Lesen. Und ich will keinen einzigen Mucks hören!"
Alle seufzten leise und der Raum wurde erfüllt vom Rascheln der Blätter. Auch ich griff wenig begeistert nach meinem Buch und schlug die genannte Seite auf. Die ganze Doppelseite war von oben bis unten mit kleiner, schwarzer Schrift bedruckt. Es ging dabei um das Wahrheitselixier Veritaserum.
Ich stützte das Kinn auf meine auf dem Tisch übereinander gelegten Arme und schaute auf die Zeilen.
Schon bald flatterten meine Augenlider merklich und die Zeilen hüpften ein wenig auf und ab, während mein Verstand mich dazu aufforderte, mich aufrecht hinzusetzen. Allerdings streikten meine Muskeln. Nach einer schlaflosen Nacht gierten sie nach ein wenig Ruhe und Entspannung. Es war so einfach, ein wenig abzudriften. Nur für ein paar Sekunden.

„Scheiße, Lily, wach auf!" Penny wisperte leise, aber gab dem Inhalt ihrer Worte Nachdruck, indem sie mich heftig schüttelte. Ich schrak auf und erkannte, dass mein Kopf zur Seite gekippt war und ich scheinbar geschlafen haben musste. Ich hatte nicht eine einzige Zeile aus dem Buch verinnerlicht.
Aber viel schlimmer war noch, dass Snape direkt auf mich zu steuerte und sich nur Sekunden später vor meinem Tisch bedrohlich aufbaute.
„Ist mein Unterricht also so langweilig und ermüdend, dass Sie Ihre kostbare Zeit lieber mit Schlafen verschwenden, Grimmauld?", fauchte er bitterböse und starrte aus tiefschwarzen Augen zu mir herab.
„Nein, Sir... ich..."
„Sparen Sie sich die dummen Ausreden, Grimmauld! Zwanzig Punkte Abzug für Gryffindor für fehlendes Interesse an wichtigen und besonders prüfungsrelevanten Unterrichtsthemen. Weitere zehn Punkte Abzug, da Sie scheinbar nicht einmal in der Lage sind, ein Klassenzimmer von einem Schlafsaal zu unterscheiden", feixte Snape und ein süffisantes Lächeln trat auf sein Gesicht. Ein paar Slytherins lachten gehässig.
Es fühlte sich an wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Wie er da vor mir stand, machte er mir beinahe Angst. Die Kälte in seinem Blick ließ mein Blut gefrieren. Sein Blut. Er war mein Vater und doch tat er mir das an. Sah er denn nicht, was er angerichtet hatte?
„Es tut mir Leid, Professor", murmelte ich mit einem heftigen Schlucken.
„Sie werden Nachsitzen, Grimmauld. Mal wieder."

Das Nachsitzen zwei Tage später bestand darin, dass ich in einer Ecke im Klassenzimmer saß und Snapes blöde Kessel schrubbte, während er an seinem Schreibtisch über ein paar Unterlagen saß.
Langsam kochte die Wut in mir hoch. Er sprach kein einziges Wort mit mir, hatte mich nicht einmal eines Blickes gewürdigt.
„Was zur Hölle soll der Mist eigentlich?", brach es schließlich nach dem fünften Kessel aus mir heraus. Ich warf ihn zornig auf den Boden, wo er mit einem lauten Krachen aufschlug und schließlich regungslos liegen blieb. Snape rührte sich nicht. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Wütend sprang ich auf, lief zu seinem Schreibtisch hinüber und entriss ihm gewaltsam das Pergament, das er gerade las. Ich warf es achtlos in eine Ecke des Schreibtischs und starrte auf meinen Vater hinunter.
„Gib endlich Ruhe, Lily!", meinte er nur hart und angelte sich das Pergament zurück. Er schaute nicht einmal hoch.
„NEIN!"
„Die Kessel sind noch nicht fertig", brummte er nur und ignorierte mich weiter.
Rasend vor Wut griff ich nach meinem Zauberstab und richtete ihn direkt auf sein Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, ob ich einen Zauber gegen ihn richten konnte, geschweige denn welchen. Aber ich war fest entschlossen, etwas gegen sein Desinteresse, gegen seine Unnahbarkeit zu unternehmen.
Jetzt endlich schaute er auf und erhob sich von seinem Stuhl.
„Pack ihn weg, Lily! Du wirst von mir keine Erklärung bekommen. Du hättest das alles nie erfahren dürfen, schließlich bist du noch ein Kind." Jetzt waren seine Augen wieder sanfter, aber seine Worte rissen ein noch größeres Loch in meine Brust.
„Ist das dein verdammter Ernst? Ich bin noch ein Kind, ja? Schon lange nicht mehr! Ich habe meine Freunde vor zwei Jahren sterben sehen, habe gegen Todesser gekämpft, mich mit einer riesigen Giftspinne angelegt, aber all das macht mich natürlich zu einem Kind, habe ich ganz vergessen. Dann sage ich dir eins, Severus Snape. Ein Kind braucht seinen Vater. Ein Kind braucht Liebe. Zuneigung. Vertrauen. Ich hoffe, ich werde nie so wie du! Lieber sterbe ich, als so herzlos und kalt zu werden."
Mit einem Ruck drehte ich mich um, rannte durch das Klassenzimmer und stieß mit einem Schluchzen die massive Holztür auf. Dann rannte ich nach draußen auf den leeren Korridor und sprintete geradewegs nach ganz oben in meinen Schlafsaal, wo mich zwei entsetzt schauende Freundinnen erwarteten. Sie wagten es nicht, mich darauf anzusprechen. Für den Moment war ich wahnsinnig dankbar darüber. Denn kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, bereute ich sie bereits so sehr. Ich hatte damit das Band zwischen meinem Vater und mir wohl für immer gekappt.

Snape - Sein letztes GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt