Kapitel 12

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Ich sah Snape von da an mit völlig anderen Augen. Ich hatte Rubys Worte noch lange nicht für wirklich wahr befunden und doch spukte mir der Gedanke, dass es so sein könnte, immer wieder im Kopf herum. Jedes Mal, wenn ich Snape in einem der vielen Gänge der Schule begegnete, achtete ich darauf, ob er zu mir sah. In jeder Zaubertrankstunde hinterfragte ich jedes einzelne seiner Worte. Und dabei kreisten Rubys und Pennys Worte wie ein Mantra immer wieder in meinem Kopf umher. Sie verfolgten mich sogar in meinen Träumen. Immer wieder wachte ich völlig fertig auf und war noch müder als am Abend.
Einmal war ich sogar fast so weit, Snape nach all dem zu fragen.
Ich blieb nach Stundenende noch einen Moment länger sitzen und sammelte deutlich langsamer als sonst meine Sachen zusammen. So war ich schließlich die Letzte im Raum.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Grimmauld?", fragte Snape mit seiner leisen und doch kalten Stimmen. Er fragte das, obwohl ich wieder einmal einen Zaubertrank vergeigt hatte und Lydia daraufhin offen erklärt hatte, dass ich niemals Snapes gefordertes UTZ-Niveau haben würde. Ich war in diesen Tagen eben einfach nicht bei der Sache.
„Ähm, ja, Professor", stotterte ich und stand auf. So geistesabwesend, verwirrt und müde wie ich jedoch war, stieß ich beim Versuch, das Klassenzimmer zu verlassen, mit voller Wucht gegen einen Tisch und quietschte ein bisschen auf.
„Miss Grimmauld?" Snapes Stimme war lauter geworden. Sollte er mich jetzt nicht eigentlich auslachen? Es war ihm doch nur Recht, wenn sich ein Gryffindor durch eigene Dummheit verletzte. Stattdessen kam er mit schnellen Schritten auf mich zu und blieb etwa einen Meter vor mir stehen. Seine Augen lagen skeptisch aber auch fragend auf mir. Er zweifelte offenbar stark an meiner Zurechnungsfähigkeit.
„Es ist alles okay, Professor... Ich... ähm... Es ist nur... Die Apparierprüfung macht mir zu schaffen. Dieses ganze Ziel-Wille-Bedacht-Gefasel bringt einfach nichts und ich habe noch immer keinen Schimmer, wie ich mich von einem Ort zum anderen bringen soll, ohne dabei sämtliche Arme und Beine zu verlieren. Außerdem habe ich schlecht geschlafen und bin totmüde", plapperte ich wie ein Depp vor mir hin. Gleichzeitig versuchte ich, mit aller Kraft meine Gedanken vor Snapes Legilimentik-Fähigkeiten zu schützen.
„Ist das so?" Ich sah Snape an, dass er mir kein einziges Wort glaubte.
„Ja, Sir, ich... werde dann mal gehen", murmelte ich und lief bereits mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, als Snape mich noch einmal kurz aufhielt.
„Es ist der Wille, der zählt, Grimmauld. Nichts ist wichtiger, als der Glaube in das, was man tut." Ich sah auf in seine dunklen Augen und starrte ihn einen Moment einfach nur wie gebannt an. Konnte es wirklich wahr sein, was Ruby sagte? War es möglich, dass Snape mein Vater und somit die Familie war, die ich nie wirklich hatte? War es möglich, dass er mich auch nur ein kleines bisschen mochte? War er deshalb in letzter Zeit netter zu mir als zuvor?
„Nun?", fragte er leise und sah mich fragend an. Hatte er was gesagt?
„Ich muss in den Unterricht, Sir", murmelte ich, senkte den Blick wieder und eilte dann so schnell wie möglich aus dem Raum hinaus. Ich würde niemals genug Mumm haben, um ihn offen zu fragen. Ich wollte mich aber auch nie wieder vor ihm so zum Affen machen.

Eine Woche später ging ich auf Ruby zu und machte sie durch ein Ticken auf ihre Schulter auf mich aufmerksam. Sie las gerade mal wieder irgendein Buch aus der Bibliothek.
„Du, Ruby?"
„Hey, Lily, wie geht es dir?", fragte sie und zog mich an der Hand neben sich auf die hölzerne Bank in der Großen Halle. Ich hatte die letzten Tage nur so viel wie nötig mit meinen Freunden gesprochen und mich stattdessen völlig hinter meinen eigenen Gedanken verschanzt. Ich vermisste sie alle immer mehr und hatte langsam ein verdammt schlechtes Gewissen deshalb.
„Was, wenn es stimmt?", flüsterte ich und sah ihr verzweifelt in die Augen.
„Wenn es stimmt, bedeutet das für dich, dass du endlich einen der Menschen gefunden hast, die du immer kennen lernen wolltest. Wenn es stimmt, wird alles gut werden", lächelte sie sanft und nahm meine Hände in ihre.
„Es ist wirklich so, oder?"
„Ja, Lily, es ist so." Ich schluckte. Dann nickte ich stumm und wischte mir eine Träne von der Wange. Ein leises Hicksen entwich meiner Kehle, ehe ich die Tränen nicht mehr halten konnte und mich mit leisem Schluchzen an Rubys Schulter lehnte. Sie strich mir sanft über den Rücken und redete leise auf mich ein.
„Miss Grimmauld? Geht es Ihnen gut?" Wir fuhren auseinander und sahen erschrocken auf. „Sie wirken in letzter Zeit stets abgelenkt und starren im Unterricht immer öfter nur vor sich hin. Kind, ist irgendetwas Schlimmes vorgefallen?" Die Schulleiterin war neben uns aufgetaucht und sah mich besorgt an.
„Nein, Professor, mir geht es nicht gut", seufzte ich und schaute zu Boden. Minerva McGonagall kniete sich vor mir auf den Boden und legte eine Hand auf meinen Arm, während ihre Augen mit mütterlicher Sorge über mein verweintes Gesicht huschten.
„Bitte, kommen Sie zu mir, wenn ich Ihnen helfen kann. Mir liegt das Wohl meiner Schüler sehr am Herzen, so auch das Ihre, Grimmauld."
„Danke, aber ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können, Professor." Ich schaute schnell zur Seite, aber zu meinem Missfallen lief dort ausgerechnet Professor Snape und kam direkt auf uns zu.
„Minerva, Grimmauld? Was ist hier los?", fragte er leise. Inzwischen starrten sämtliche Schüler in der Großen Halle zu uns herüber.
„Seien Sie unbesorgt, Severus", meinte McGonagall und beachtete ihn dann gar nicht weiter.
„Als stellvertretender Schulleiter habe ich ein Interesse daran, wie es den Schülern ergeht, Ma'am", meinte er daraufhin eindringlicher. McGonagall strafte ihn nur mit einem bösen Blick. Sofort traten mir wieder Tränen in die Augen. Einen Streit zwischen den beiden konnte ich nun wirklich nicht mehr ertragen.
„Entschuldigen Sie mich", flüsterte ich nur leise, kletterte an McGonagall vorbei von der Bank und schob Snape unsanft am Arm ein Stück zur Seite. Dann rannte ich hoch in die Schlafsäle der Mädchen und verschanzte mich in meinem Zimmer. Ich konnte das nicht mehr. Ich ertrug das einfach nicht.

Keine halbe Stunde später saßen meine drei besten Freunde bei mir und sahen mich alle bedröppelt an. Keine Ahnung, wie Aaron es fertig gebracht hatte, lebend bis nach hier oben zu gelangen. Normalerweise war es Jungs durch einen Abwehrzauber im Treppenaufgang nicht möglich, die Mädchenschlafsäle zu betreten.
„Okay, das bringt hier alles nichts mehr. Lasst uns Snape einfach mal einen Moment vergessen, ja? Ich habe nämlich gerade etwas sehr interessantes mitbekommen", meinte Aaron, kaum dass er da war.
„Was denn?", fragte ich sogleich dankbar darüber, dass er mich ablenkte.
„Ich habe eben gehört, wie Lydia zu Courtney gesagt hat, dass sie ihn gefunden hat."
„Ihn?", fragte Penny verwirrt.
„Ich weiß auch nicht. Sie sagte: ‚Ich hab ihn endlich gefunden und sicher versteckt.' Dann hat sie gemerkt, dass ich zuhöre und mir die Pest an den Hals gewünscht", erklärte er.
„Was könnte sie meinen?", fragte Penny nachdenklich.
„Das, was sie im Raum der Wünsche gesucht hat, natürlich. Sie muss noch einmal dort gewesen sein", überlegte ich laut.
„Das klingt sehr danach, Lily. Aber was ist es? Und wo hat sie es versteckt?" Ruby schaute ratlos drein.
„Was auch immer es ist. Wir müssen es suchen!", rief ich entschlossen. Ich hatte endlich wieder eine Aufgabe.
„Und wo fangen wir an?", fragte Aaron.
„Im Slytherin-Gemeinschaftsraum! Vielleicht hat sie es in ihrem Zimmer versteckt!"
„Aber dort kommen wir nicht rein", murmelte Ruby.
„Vielsaft-Trank", flüsterte Penny und wir alle sahen sie an. „Ich weiß, wie man den braut. Lasst mich überlegen... Die meisten Zutaten könnte ich besorgen. Aber wir brauchen ein gemahlenes Horn eines Zweihorns und ich wüsste nicht, wo ich das herbekommen könnte. Abgesehen von Snapes Klassenzimmer oder der Vorratskammer neben dem Klassenzimmer..."
„Ich hole es!" Ich sprang auf, getrieben von dem irrwitzigen Gedanken, dass ich dort einfach hineinspazieren konnte.
„Lily, warte!", rief Ruby mir hinterher.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren! Kümmert ihr euch um alles, was wir für den Trank brauchen. Immerhin dauerte es doch etwa einen Monat, bis der fertig ist. Ich gehe dieses Horn suchen." Dann stürmte ich aus der Tür und machte mich auf den Weg in die Kerker. Meine Freunde riefen mir noch aufgeregt hinterher, aber ich hörte nicht einmal zu.

Ich hatte Glück. Weit und breit war niemand zu sehen, als ich an der Holztür ankam. Ich hoffte sehr, dass Snape nicht da war und zog meinen Zauberstab hervor. Es würde wahnsinnig unangenehm werden, ihm zu begegnen, während ich unerlaubt in seinem Klassenzimmer Zutaten stahl.
Alohomora", flüsterte ich und die Tür sprang problemlos auf.
Ich betrat den Raum mit leisen Schritten und ging hinüber zum ersten Regal. So schnell wie möglich überflog ich die kleinen Zettelchen, die verrieten, was sich in den Gefäßen, Dosen und Reagenzgläsern befand. Zwar hatte ich das alles mal sortiert, aber jetzt standen all die Behälter, Gläser und Flaschen wieder durcheinander auf den Regalen und wirklich erinnern konnte ich mich auch nicht mehr.

Ich suchte bereits etwa zehn Minuten und hatte noch immer nichts gefunden, als sich plötzlich schnelle Schritte näherten. Hastig sprintete ich zu einem kleinen Schrankvorsprung und drängte mich dahinter an die Wand. Mit angehaltenem Atem lauschte ich und stellte verzweifelt fest, dass die Person gerade in diesen Raum gekommen war. Mein Herz raste und setzte dann aus, als ich sah, wer es war. Professor Snape hatte gerade sein Klassenzimmer betreten.     

Snape - Sein letztes GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt