Kapitel 23

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Die nächsten drei Wochen herrschte eisige Stille zwischen Snape und mir. Wenn wir uns über den Weg liefen, ignorierten wir den anderen geflissentlich. So war es auch in seinem Unterricht. Er sprach nicht mit mir, er verteilte lediglich schlechte Noten für meine miserablen Aufsätze. Er schaute sich im Unterricht nicht einmal an, was ich in einem seiner Kessel zusammenbraute.

Penny, Ruby und Aaron hatten oft versucht, zu mir durchzudringen. Ich hatte ihnen schließlich alles erzählt, aber sie konnten mich nicht dazu bringen, auch nur ein einziges Wort an meinen Vater zu richten. Er hatte mich viel zu sehr verletzt.
Auch Professor McGonagall warf mir immer mal wieder fragende Blicke zu, aber ich wehrte sie jedes Mal ab, wenn sie mit mir darüber sprechen wollte. Snape war besser darin, die ganze Sache geheim zu halten. Er war so mies gelaunt wie immer. Vielleicht zog er in diesen Zeiten noch mehr Hauspunkte ab als gewöhnlich, aber das ließ niemanden stutzig werden.

Heute war Donnerstag und wir hatten mal wieder eine ewig lange Doppelstunde Zaubertränke gehabt. Ruby war schon aus dem Raum heraus. Sie meinte, sie müsse unbedingt zu Elisabeth Claire aus unserem Jahrgang, um sie etwas zu ihrem Zauberkunst Aufsatz zu fragen. Also wartete ich diesmal allein auf Penny, die gerade noch mit ihrem Zaubertränkebuch kämpfte. Als sie endlich alles gepackt hatte, schulterte sie ihre Tasche.
„Oh, ich habe noch etwas vergessen", murmelte sie mehr zu sich selbst. Inzwischen waren wir die letzten Schüler im Raum.
„Was denn?", fragte ich verwirrt.
Doch statt einer Antwort zog Penny den Zauberstab, schwang ihn durch die Luft und die Tür fiel mit einem Scheppern ins Schloss. Ich sah sie geschockt an und war gleichzeitig fasziniert, wie leicht ihr dieser unausgesprochene Zauber gefallen war.
„Professor Snape!", rief sie dann selbstsicher, griff nach meinem Arm und zerrte mich mit sich nach vorne.
„Was soll das werden?", fauchte Snape böse.
„Lily hat jetzt eine Freistunde, Professor. Und wenn ich mich recht entsinne, müssen Sie jetzt auch nicht unterrichten. Ich will, dass Sie sich endlich mit Lily aussprechen! Es hat doch keinen Zweck mehr. Ja, Sie haben sich angeschrien, es sind Wörter und Sätze gefallen, die zumindest Lily zutiefst bereut, und das soll endlich aufhören. Ich will nicht länger mit einer leichtexplosiven Bombe in einem Zimmer leben. Machen Sie gefälligst was dagegen! Ich lasse Sie nicht eher aus diesem Raum, bis das ein Ende hat!"
Dann ließ Penny mich los und rauschte einfach aus dem Raum heraus. Ich stand da neben Snapes Schreibtisch und starrte ihr fassungslos hinterher.
Schließlich stand Snape auf und umrundete den Tisch auf dem Weg zur Tür. Dabei wünschte er Penny mit einem leisen, wütenden Murmeln alle Flüche gleichzeitig auf den Hals.
„Nein, warte!", rief ich noch immer geschockt, als er schon fast an der Tür war. „Sie hat doch Recht..." Snape blieb stehen, sagte aber kein Wort. „Ich hätte das nicht sagen dürfen. Aber ich bin so wütend... ich..."
„Ich weiß, Lily", seufzte er und drehte sich langsam um. „Ich dachte schon, du würdest nie wütend werden. Aber du musst verstehen, dass du nicht weiter dabei sein kannst."
„Warum denn nicht? Sag mir einen guten Grund dafür!" Meine Tonlage schnellte in die Höhe und wieder spürte ich das leichte Prickeln in meinen Handflächen. Das Bedürfnis, irgendetwas kurz und klein zu schlagen.
„Du bist noch viel zu jung für all das Leid. Du solltest dich nicht mit so etwas beschäftigen, sondern für deine Prüfungen lernen, Freunde treffen, was Mädchen in deinem Alter halt so machen."
„Ich bin aber nicht wie die anderen! Glaubst du, die letzten drei Wochen waren schön? Glaubst du, es ist ganz normal, dass man lernend in der Bibliothek hockt, während die Schule angegriffen wird?"
„Das machen die anderen auch."
„Weil sie es nicht wissen, verdammt! Und noch dazu habe ich einen Vater, der mich behandelt wie Dreck und mich nach Belieben von sich stößt. Glaubst du, das ist auch normal?" Stumm starrten wir uns einen Moment an.
„Ich habe solche Angst um dich, Lily", flüsterte er erst nach einer Weile. „Ich dachte, ich könnte dich vor all dem beschützen, wenn du dich nur von mir fern hältst." Seine Augen wurden feucht, aber er blinzelte die Tränen schnell weg.
„Das glaube ich dir nicht."
„Aber es ist die Wahrheit, Lily! Ich habe dir gesagt, ich bin schlecht darin, dir ein Vater zu sein."
„Aber du hast es ja nicht einmal versucht! Was habe ich falsch gemacht, dass du mich wegstößt?"
„Gar nichts. Du hast absolut gar nichts falsch gemacht."
„Ach, spar dir das doch!" Ich schnaubte verächtlich und wollte einfach nur noch hier raus. Aber Snape hielt mich am Handgelenk auf, ehe ich die Tür erreichte.
„Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, ein guter Vater zu sein. Ich wollte dich beschützen. Ich hatte gehofft, dass du mich so sehr hassen würdest, dass du mich und all das andere Zeug vergisst. Ich will doch nur, dass du in Sicherheit bist. Ich bin miserabel, das weiß ich jetzt. Ich habe auf ganzer Linie versagt und ich schäme mich dafür, wie ich dich behandelt habe. Ich habe gesehen, wie schlecht es dir ging, und habe nichts gesagt. Ich bin dir alles andere als ein guter Vater."
Ich hielt inne und dachte einen Moment über seine Worte nach. Er schaute mir so ehrlich verzweifelt entgegen, dass ein Großteil meiner Wut einfach verpuffte.
„Ich weiß doch auch nicht, was ich machen soll. Es tut mir so leid, was ich zu dir gesagt habe. Du bist nicht kalt und herzlos. Das bist du nicht. Aber ich war so wütend und so verletzt, weil du mich zurückgewiesen hast. Ich war davon ausgegangen, dass es werden würde wie bei meinen Freunden. Dass irgendwie jeder Vater gleich ist. Dass ich wüsste, wie du tickst. Aber das weiß ich nicht, weil ich dich auf die Weise einfach nicht genug kenne. Ich weiß nicht, was ich in deiner Gegenwart sagen und machen darf. Ich habe keine Ahnung, wie ich am besten mit dir reden soll. Ich weiß ja nicht mal, ob es für dich okay wäre, dich zu umarmen. Ich weiß das alles nicht, aber mein Herz sehnt sich so sehr danach, seit ich weiß, wer du bist. Ich habe alles kaputt gemacht, weil ich dir Worte an den Kopf geworfen habe, die du nicht vergessen wirst." Ich schaute beschämt zu Boden und kämpfte gegen die Tränen an.
„Vielleicht kann ich es nicht sofort vergessen. Aber ich verstehe dich. Ich habe dich schrecklich behandelt und dir damit ein schreckliches Gefühl gegeben. Natürlich hast du dich da grauenvoll gefühlt. Es war ein Fehler, dich auszuschließen. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte dir vertrauen müssen. Aber die Angst hat mich blind gemacht. Du bist viel stärker, als ich immer dachte."
„Und was machen wir jetzt?", fragte ich zögerlich und sah in seine dunklen Augen.
„Ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst. Ich könnte es verstehen, wenn du es nicht kannst. Aber wenn du es kannst, dann bitte ich dich um eine zweite Chance. Gib mir noch einmal die Möglichkeit, dir mein volles Vertrauen zu schenken. Du weißt inzwischen viel zu viel, um dich ganz heraus zu halten. Und es ist grauenvoll, dich unglücklich zu sehen. Lass mich meinen Fehler wieder gut machen, Lily, ich bitte dich."
Ich sah noch immer in die schwarzen Augen meines Dads und ganz langsam wurde mir wieder warm ums Herz. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.
„Versuch nie wieder, mich irgendwo rauszuhalten."
„Es tut mir so leid. Ich verspreche dir, dass ich es irgendwie wieder gut machen werde." Snape hob eine Hand und strich mir vorsichtig eine Haarsträhne hinters Ohr. Mein Herz sehnte sich so sehr nach Geborgenheit, dass ich wackelig nach vorne stolperte und mein Gesicht an seiner Brust in seinem Umhang verbarg. Meine dünnen Finger klammerten sich an den dunklen Stoff und ich schloss ganz fest die Augen, als ich Snapes Zögern bemerkte. Aber schließlich legte er beide Arme um meinen inzwischen bebenden Körper. Er fuhr mir beruhigend durchs Haar und hielt mich fest, während meine Schluchzer langsam wieder abebbten. Und auch als ich wieder völlig still da stand, ließ er mich nicht los.
„Vergiss bitte, was ich zu dir gesagt habe. Es war eine Lüge, Dad. Nur eine Lüge", flüsterte ich in den Stoff seiner Kleidung hinein. Seine Umarmung wurde nur noch ein bisschen fester.
Das hier war Geborgenheit. Genau hier wollte ich immer sein. In den Armen meines Vaters, der mich liebte, so wie ich eben war. Er ein Slytherin, ich eine Gryffindor. Und doch schlug in uns beiden das gleiche Herz, wir teilten das gleiche Blut und wir würden zusammen die gleichen Ziele verfolgen. Ich hatte nach sechzehn Jahren endlich nach Hause gefunden.    

Snape - Sein letztes GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt