Kapitel 7

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Es verging ein knapper Monat, ohne dass etwas wirklich Spektakuläres geschah. Ich war beinahe zu Lydias Schatten geworden und beobachtete sie so oft es ging, aber sie hatte nichts Verdächtiges mehr unternommen seit der Sache im Raum der Wünsche. Aaron bestritt sein erstes Spiel gegen Hufflepuff und gewann schließlich, da unser Sucher den Goldenen Schnatz fing. Ansonsten war es recht ruhig und wir konzentrierten uns auf unsere bevorstehenden Apparier-Stunden. In ein paar Wochen war es endlich soweit und Ruby las schon jetzt tausend Bücher darüber, deren Inhalt sie mir dann in schier unendlichen Redeflüssen herunter betete.
Das einzig Erwähnenswerte in den letzten Wochen war wohl, dass ich mal wieder bei Snape nachsitzen musste. Angeblich hatte ich seine Zutaten durcheinander gebracht, was einfach völlig überzogen war. Ich hatte aus Versehen ein Glas mit einigen Bezoaren umgestoßen, die dann in jede mögliche Richtung des Klassenzimmers davon rollten. Aber es waren eben nur ein paar Bezoare gewesen und nichts weltbewegend Schlimmes. Dennoch musste ich insgesamt fünf Abende schweigend in Snapes düsterem Klassenzimmer verbringen und so ziemlich all seine Zaubertrankzutaten und Vorräte neu sortieren, während Snape selbst an seinem Schreibtisch im Klassenzimmer saß und kein Wort sagte. Aber ich spürte immer wieder seinen düsteren Blick in meinem Rücken und immer, wenn ich seinen Blick böse erwiderte, wandte er sich ab.

„Wo ist Gimli schon wieder?", fragte Ruby am Mittwochabend aufgebracht und rannte durch den Gemeinschaftsraum. Sie kam gerade aus unserem Schlafsaal und fuchtelte mit einem Brief herum, den ihre Eule Gimli anscheinend überbringen sollte. Die recht kleine Eule war grundsätzlich immer genau dann weg, wenn Ruby sie für einen Brief oder ein kleines Päckchen brauchte.
„In der Eulerei?", schlug ich grinsend vor und schaute hinter meinem neusten Strafaufsatz für Snape hervor. Mir war im Unterricht mein Kessel um die Ohren geflogen und jetzt musste ich eine genaue Erklärung darüber schreiben, warum das passiert war. Dabei hätte ich schwören können, dass es nicht mein Fehler war. Auch Penny beteuerte vor Snape, dass mir jemand etwas in den Kessel gekippt haben musste. Er glaubte uns kein Wort und ich würde wohl auch nie erfahren, wer es gewesen war.
„Sie hasst andere Eulen", brummte Ruby. Dann seufzte meine beste Freundin frustriert und setzte sich zu mir auf ein Sofa. „Willst du nicht auch einen Brief an deine Familie schicken?" Sie sah mich eindringlich und ein bisschen besorgt an. In letzter Zeit grübelte ich einfach viel über die Sache mit Lydia.
„Nein, Rub. Ich hasse sie und das weißt du." Ruby seufzte, ließ das Thema dann aber fallen.
„Ach, hier seid ihr. Ruby, kann ich mir mal deine Verteidigung-Unterlagen leihen? Professor Morring macht mich morgen zur Schnecke, wenn ich nicht irgendwas Kluges sage." Aaron setzte sich zu uns und sah Ruby mit einem Bettelblick an.
„Na schön, ich helf dir", gab sie ihm seufzend nach. „Kommst du auch mit?" Sie sah mich fragend an.
„Ich muss den blöden Aufsatz noch bis morgen fertig schreiben. Und ich gehe noch einmal in den Raum der Wünsche."
„WAS?", riefen meine Freunde synchron und sahen mich etwa mit demselben entsetzten Blick an.
„Ich muss einfach wissen, was Lydia dort gesucht hat. Vielleicht finde ich irgendwelche Hinweise. Zum Raum ist es nicht weit, ich werde niemandem auf dem Weg dorthin begegnen", versuchte ich beide ein wenig zu beschwichtigen. Sie sahen nicht glücklich aus.
„Dann lass uns mitkommen!", bat Aaron nach einem kurzen Schweigen.
„Ihr müsst für Verteidigung lernen. Ich komme alleine klar, ehrlich."
„Lily, du wirst dort nichts finden."
„Ich höre auf, zu suchen, wenn dort wirklich nichts ist." Ich kreuzte die Finger und sah sie flehend an.
Aaron seufzte, nahm Rubys Handgelenk und zog sie vom Sofa hoch.
„Lass dich nicht erwischen, Lily. Ich bring dich um, wenn du von der Schule fliegst!", meinte er grimmig, lächelte dann aber sanft. Doch meine beste Freundin sah mich noch immer vernichtend an und blickte dann tadelnd zu Aaron, der mich schon immer in meinen dümmsten Ideen bestärkt hatte.
„Aaron, nein, sie..."
„Lass sie, Rub."

Ich warf Aaron noch ein letztes dankbares Lächeln zu. Dann verließen sie den Gemeinschaftsraum, während Ruby sich noch immer aufregte. Während die beiden also vermutlich zur Bibliothek gingen, kratzte meine Feder mit hastigen Bewegungen über das Pergament. Gegen Ende meines Aufsatzes wurden meine Ausführungen immer schwammiger und kürzer. Aber das musste reichen, ich hatte nicht mehr viel Zeit, bis die Sperrstunde begann.
Als ich endlich den letzten Satz geschrieben hatte, stopfte ich mein Buch und den Aufsatz zusammen mit Feder und Tinte in meine Tasche und brachte sie eilig hoch in den Schlafsaal. Dann sprintete ich wieder nach unten und schlüpfte durch das Portraitloch hinaus auf den Korridor.
Ziemlich schnell kam ich bei dem Wandteppich mit Barnabas dem Bekloppten an und lief weiter zu dem Stück Wand, wo sich der Raum der Wünsche befand. Ich hatte mich in den letzten Wochen erkundigt, wie genau man in den Raum der Wünsche hinein kam. In der Bibliothek hatte ich nicht viel gefunden. Eigentlich gar nichts. Schließlich hatte ich für einen Mitschüler seine gesamten Kräuterkundehausaufgaben machen müssen, um an die wertvollen Informationen zu kommen.
Ich stellte mich also vor die kahle Steinwand, schloss die Augen und konzentrierte mich mit aller Kraft auf jedes kleine Detail, an das ich mich noch vom letzten Mal erinnerte. Gleichzeitig versuchte ich dem Raum zu verdeutlichen, wie wichtig diese Angelegenheit war und wie dringend ich Antworten finden musste. Ich lief drei Mal vor der Wand hin und her, blieb dann kurz so stehen und atmete tief durch. Dann öffnete ich die Augen und erblickte tatsächlich die große Tür, die auch beim letzten Mal für Lydia erschienen war und nun mich willkommen hieß.
Mit einem Grinsen betrat ich den Raum der Wünsche und bestaunte mal wieder seine Weite und all die Sachen, die er vor so vielen Hexen und Zauberern geheim hielt.
Nach einem Moment machte ich mich dann auf den Weg zwischen die vielen Berge aus unterschiedlichsten Gegenständen. Ich schlängelte mich durch die schmalen Gänge und merkte erst jetzt, wie viel von der Schönheit des Raumes ich beim letzten Mal verpasst hatte. Ich ließ die Fingerspitzen über einige Gegenstände gleiten, sah mir geheimnisvolle Einkerbungen in einem uralten Wandschank an und entkam dem einen oder anderen Wichtel, ehe er mich an den Ohren zu fassen bekam, um mich einen der hohen Türme hinauf zu schleifen.
Dabei suchte ich stets nach etwas, das für Lydia irgendeine Bedeutung haben könnte. Aber da war nichts. Alles hier könnte irgendeine versteckte Geschichte haben oder auf irgendeine Weise wichtig sein. Ratlos schlich ich weiter und begutachtete alles, was mir in die Finger kam. Ohne Erfolg.

Nach etwa eineinhalb Stunden gab ich die Suche auf und lief betrübt zurück. Doch ich stockte bald, als ich auf einem kleinen Tisch ein Buch entdeckte. Dieser Tisch stand völlig losgelöst von allem anderen im Raum und darauf lag nur dieses eine alte Buch. Sofort hatte ich das Gefühl, dass mir der Raum damit etwas sagen wollte.
Ich ging also auf das Buch zu und fuhr vorsichtig mit den Fingern über den staubigen Einband. Es geschah nichts, während ich es berührte. Also nahm ich das Buch in die Hand und pustete den Staub hinunter. Dann sah ich es mir genauer an. Das Buch schien alt zu sein, da die Seiten teils ausgefranst und gelblich waren. Der dunkle Ledereinband schimmerte rötlich, als ich ihn gegen das Licht hielt. Auf der Mitte des Buchdeckels stand in einer schnörkeligen Schrift das Wort „Memories". Es war ein Tagebuch.

Vorsichtig schlug ich den Deckel auf und blätterte die erste leere Seite um. Die nächsten Seiten waren komplett vollgeschrieben mit einer schwungvollen, teils schlecht lesbaren Schrift. Ich blätterte zurück zum Anfang und suchte nach einem Namen. Vorne im Buch war kein Hinweis darauf. Doch auf der letzten Seite wurde ich fündig. Dort stand ganz klein in der rechten unteren Ecke „Der Halbblutprinz".

Ich stockte und schlug das Buch wieder zu. Der Halbblutprinz. Severus Snape. Dieses Tagebuch gehörte meinem Professor. Ich konnte und durfte es nicht lesen. Also legte ich es schnell wieder zurück, wodurch einzelne Staubkörner in die Luft stoben und im künstlichen Licht merkwürdig matt und glanzlos durch die Luft tanzten.
Ich trat bereits ein paar Schritte zurück, als ich inne hielt. Dieses Buch würde mich nicht mehr loslassen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es wichtig war. Wieso sollte es genau dort liegen, wenn es vom Raum nicht so gewollt war? Snape hätte das Buch wohl kaum an einem solchen Ort versteckt, an dem es förmlich danach schrie, gelesen zu werden. Ich musste das tun.

Also griff ich wieder danach und ließ mich ein paar Meter weiter an die Rückseite eines alten Schrankes sinken. Ich setzte mich in den Schneidersitz und schlug die erste beschriebene Seite auf.

Ich verstehe noch immer nicht. Wie konnte sie mir das antun? Sie ist das Wichtigste in meinem Leben, auch wenn ich unsere Freundschaft durch einen unendlich dummen Fehler zerstört habe. Sie ist etwas Besonderes. Er ist es nicht. Er ist nur ein arroganter Widerling, der zusammen mit seinen törichten, dummen Freunden mit seiner Beliebtheit prahlt. Ich hätte die Wahrheit nie erfahren dürfen. Sie hätten glücklich werden sollen, wenn es vorüber ist und ich dieses penetrante und aufdringliche Glück nicht mehr sehen muss. Warum denn jetzt und nicht erst ein Jahr später? Jetzt zerreißt es mich. Da ist immer dieses Funkeln in ihren Augen. Diese wundervollen Augen. Nichts würde ich mir mehr wünschen, als dass sie mich nur ein einziges Mal mit diesem Blick ansieht. Nur dieses eine einzige Mal.

Bei jedem Wort, das ich las, wurde mir bewusster, dass ich es nicht durfte. Ich drang hier tiefer in die Privatsphäre meines Lehrers ein, als es wohl je ein anderer Mensch getan hatte. Gleichzeitig fesselte mich jedes Wort mehr, sodass ich dort noch ewig lange auf dem staubigen Boden saß und immer weiter las. In diesem Buch hatte Professor Snape seine Seele niedergeschrieben und ich wollte nichts mehr, als all das zu verstehen. Er sprach oft in Metaphern und Bildern, die ich nicht verstand. Das alles bannte mich so sehr, dass ich mir sicher war, dass ich dieses Tagebuch mitnehmen musste. Ich musste die Geschichte dahinter erfahren. Das war die Aufgabe, die mir der Raum der Wünsche mit auf den Weg gab.     

Snape - Sein letztes GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt