Kapitel 17

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Mit langsamen, bedachten Schritten kehrte ich in die Große Halle zurück. Meine Freunde sahen mich schon von Weitem, sammelten ihre und auch meine Sachen zusammen und kamen mir dann entgegen geeilt. Ohne ein Wort zu wechseln, verschanzten wir uns mit dem Muffliato-Zauber in der hintersten Ecke der Bibliothek und setzten uns zwischen den Regalen auf den Fußboden. Dann schauten mich alle an und hatten exakt dieselbe Frage auf der Stirn geschrieben.
„Es stimmt", brachte ich schließlich mit einem Schluchzen hervor. Völlig unvorbereitet brachen bei mir alle Dämme. Ich schluchzte laut auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Ich bekam kaum mit, wie Aaron mich in seine Arme zog und uns beruhigend hin und her wiegte.

Nach sechzehn Jahren hatte ich endlich meinen Vater gefunden und musste erfahren, dass ich ihn bereits seit über fünf Jahren nahezu jeden Tag sah. Vielleicht sollte ich wirklich einfach nur wütend auf ihn sein und ihn zur Hölle wünschen, aber das Einzige, was ich jetzt gerade in diesem Moment fühlte, war unbändige Freude darüber, dass ich endlich nicht mehr alleine war. Ich hatte meine Freunde, die zu meiner Familie geworden waren, aber ich hatte nie einen Vater gehabt. Mein Pflegevater konnte dieser Aufgabe nie gerecht werden. Und jetzt nach all der Zeit fand ich endlich diesen einen Menschen, nach dem ich mich mein Leben lang gesehnt hatte. Einen Vater, der so war wie ich, der auch in meiner Welt lebte und nicht nur ab und an ein paar völlig offensichtliche Fragen stellte, damit es so wirkte, als würde es ihn interessieren. Dass es ausgerechnet Snape war, machte die Sache jedoch ein bisschen komplizierter. Ich war Jahre lang davon ausgegangen, dass er mich hasste. Aber ich würde uns eine Chance geben. Ich würde ihm die Chance geben, mir ein Vater zu sein. Denn wie es schien, sorgte er sich um mich. Und all die Wörter, die er in seinem Tagebuch niedergeschrieben hatte, sprachen von einer Liebe, die ich vielleicht gar nicht begreifen konnte.

„Es wird alles wieder gut, Lily. Egal, was er dir angetan hat, ich werde dich beschützen, Kleine", murmelte Aaron schließlich. Er hatte seinen Kopf auf meinen gelegt und hielt mich ganz fest.
„Was? Nein!", ich drehte mich in seinen Armen zu ihm hin und sah ihn schockiert an. Aaron war verwirrt.
„Er hat es zugegeben. Er hat es zwar so nicht ausgesprochen, weil er meint, dass dieser Travis es auf mich absehen würde, wenn es irgendwer erfährt, aber er... ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll..."
„Versuch es, Lily", lächelte Penny mir aufmunternd zu.
„Zuerst war er wütend, dass ich das Buch gelesen habe. Aber als ich ihn gefragt habe, warum ich es nicht wissen durfte, hat er geweint und es war, als wäre er plötzlich ein anderer Mensch. Er macht sich Sorgen. Am Ende hat er mich weggeschickt, weil er allein sein wollte. Ich hab ihm angesehen, wie sehr er mit sich zu kämpfen hatte. Diese Gefühle in dem Tagebuch sind echt."
Wir schwiegen einen Moment und hingen unseren eigenen Gedanken nach.
„Ich habe übrigens einhundert Hauspunkte bekommen für die Sache mit Travis", schmunzelte ich nach einer Weile. Ruby lachte auf und drückte meine Hand.
„Ja, wir haben gesehen, wie sich das Stundenglas schlagartig gefüllt hat. Vielleicht kannst du in Zukunft ja ein paar mehr rausschlagen", grinste sie. Ich schüttelte nur lachend den Kopf.
„Wirst du dich irgendwann mit ihm aussprechen? Also habt ihr irgendwas abgemacht?", fragte Penny dann.
„Nein, gar nichts. Ich glaube, wir müssen es beide jetzt erst mal realisieren."
„Ich kann mir das irgendwie gar nicht wirklich vorstellen. Ein netter Snape...", überlegte Ruby und verzog die Lippen zu einem Grinsen.
„Apropos nett... Ich hab ihm möglicherweise erzählt, dass ich mit Vielsaft-Trank in den Slytherin-Gemeinschaftsraum will", sagte ich dann zerknirscht.
„DU HAST WAS?", fragte Penny schockiert und starrte mich an. Ruby schien sich verschluckt zu haben und hustete heftig.
„Er wird uns alle umbringen", seufzte Aaron mit leidiger Stimme.
„Du musst ihn nicht hassen, Aaron. Ganz im Gegenteil. Er war nicht einmal sauer. Er hat mir das hier gegeben", meinte ich und kramte dann in meiner Innentasche. Ich zog das kleine, undurchsichtige Fläschchen hervor und betrachtete es von allen Seiten.
„Was ist das?", fragte Ruby und nahm es mir weg. Sie öffnete es, roch daran und verzog unwillkürlich angewidert das Gesicht.
„Vielsaft-Trank", lächelte ich.
„Er hat dir einfach so welchen gegeben?" Aaron schaute ungläubig, was mich zum Lachen brachte.
„Er ist eben gar nicht so fies, wie immer alle denken." Ich lächelte und es erfüllte mich mit Zuversicht. Wir würden das hinkriegen.

Am Abend im Gemeinschaftsraum schmiedeten wir einen Plan, wie wir am besten vorgingen. Morgen nach der Schule wollten wir loslegen.
„Am besten suchen wir uns einen Slytherin aus, der mit Lydia befreundet ist. Dann kannst du mit ihr sprechen", meinte Penny.
„Aber wie sollen wir die Person dann ruhig stellen, ohne dass sie hinterher petzt?", fragte ich.
„Lily hat Recht, wir sollten einen Außenseiter nehmen, der oft alleine ist. Die Person fällt weniger auf und es ist weniger kompliziert, einen einfachen Gedächtniszauber zu wirken. Du darfst trotzdem nicht erwischt werden", meinte Ruby.
„Und wer kommt da in Frage?", überlegte Penny.
„Lucy... Ich weiß nicht mal, wie sie mit Nachnamen heißt. Die kleine, blonde Schlafwandlerin", schlug Aaron vor. Er meinte Lucy Gwenn. Sie verschwand ständig auf mysteriöse Weise. Madam Pomfrey meinte, sie sei eine Schlafwandlerin. Allerdings fragte sich jeder, wie sie vom Slytherin-Gemeinschaftsraum in den Verbotenen Wald oder den Astronomieturm gelangte, ohne dabei aufzuwachen.
„Hmm, ja, das ist nicht schlecht. Wie kriegen wir ein Haar von ihr und wie stellen wir sie ruhig?"
„Ich werde mich um das Haar kümmern", meinte Penny. „Und ruhigstellen müssen wir sie vielleicht gar nicht. Wir müssen ihr folgen und aufpassen, dass sie nicht in die Nähe des Gemeinschaftsraums kommt. Den Gedächtniszauber brauchen wir dann vielleicht auch gar nicht."

Der nächste Tag begann mit Zauberkunst bei Flitwick. Ich gab mir die größte Mühe im Unterricht und das merkte auch Professor Flitwick. Es war in seinem Unterricht mal wieder genauso laut und betriebsam wie immer, aber heute hatte ich seit langer Zeit mal wieder richtig Spaß daran. Ich redete ununterbrochen mit meinen Freunden und übte gleichzeitig den Zauber, den Flitwick uns heute beibringen wollte.
Am Ende der Stunde nickte er mir mit einem Lächeln zu, bevor ich mit meinen Freunden das Klassenzimmer verließ.
Kräuterkunde zog sich dann ewig in die Länge. Jedes Mal, wenn ich in einem der Gewächshäuser stand, bereute ich, dass ich dieses Fach weiter gemacht hatte. Professor Sprout hatte das schon lange kapiert und sagte mir immer wieder, dass sie sich motiviertere Schüler wünschen würde. Was sie mir damit sagen wollte: Entweder ich strenge mich langsam mal an und tue wenigstens so, als hätte ich Spaß daran, oder ich falle mit ziemlicher Sicherheit durch. Ich wollte beides nicht.

Auf dem Weg zu Snapes Unterricht hatte ich ein mulmiges Gefühl. Gleichzeitig freute ich mich aber auch irgendwie. Ruby, Penny und ich liefen extra früh los, um als erstes im Raum zu sein. Das waren wir schließlich auch, allerdings war Snape noch nicht da.
„Ich bin mal sowas von gespannt!", raunte Ruby mir zu, als sich der Raum mit Schülern füllte.
„Und ich erst", pflichtete Penny ihr bei. Ich selbst war einfach nur nervös.

Keine zwei Minuten später schwang die Tür krachend auf und Snape kam mit wallendem Umhang und noch schneller als sonst in den Unterricht. Er drehte sich vorne schwungvoll um und ließ den Blick kurz durch das Zimmer wandern. Sein Blick blieb eine Sekunde länger an mir kleben als nötig, aber in seiner Miene zeigte er keine einzige Regung. Ich lächelte leicht, aber da schaute er auch schon wieder weg.
„Der Unterricht wird heute nicht stattfinden. Schreiben Sie bis zur nächsten Stunde einen Aufsatz zu Seite 394 im Buch", sagte er und rauschte dann ohne jegliche Vorwarnung auch schon wieder aus dem Raum hinaus. Ich konnte ihn nur noch fragend ansehen und einen kurzen Blick in seine besorgten Augen erhaschen. Irgendwas musste passiert sein.    

Snape - Sein letztes GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt