Kapitel 11

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„Jetzt sag schon, Ruby!" Ich rüttelte ungeduldig an ihrem Arm. Ich war kurz vorm Platzen, so gespannt war ich.
„Dubistes,Lily...", murmelte sie so hektisch und schnell, dass es wie ein einzelnes Wort klang. Doch sie brachte mein Herz damit für einen kurzen Moment zum Stocken und in meinem Kopf hämmerte mein Herzschlag ohrenbetäubend laut gegen meine Schädeldecke.
Ich zog meinen Arm zurück und sah sie verdattert an. Wie konnte sie mir das antun? Ich war ohne meine leiblichen Eltern aufgewachsen und jetzt behauptete sie einfach, dass der fieseste und meist gehasste Lehrer Hogwarts mein Vater sein sollte? Wie bescheuert war das denn bitte? Das konnte gar nicht wahr sein! Das war ein völlig lächerlicher und kränkender Schmerz, den sie mir mit dieser Aussage versetzte. Ich hatte gedacht, wir wären Freunde. Ich hatte gedacht, Ruby würde verstehen, wie schwer es mir fiel, damit klar zu kommen, dass ich keine Eltern hatte und nie haben werde.
Entsetzt stand ich auf und wollte schon gehen, als Ruby mich am Arm packte und zurück auf den Stuhl zog. Sofort wehrte ich mich, aber Ruby ließ nicht los.
„Bitte, Lily! Hör mir zu! Ich erkläre es dir, wieso ich das glaube. Ich will dir damit nicht weh tun. Ich will für dich die Wahrheit herausfinden!" Sie klang ruhig und schaute mich eindringlich an.
„Wohl kaum", blaffte ich sie nur an und sah weg. Mein Blick kreuzte den von Aaron, der mich mitleidig ansah und schwer schluckte.
„Hör es dir doch an", flüsterte er zaghaft und nahm meine Hand in seine. Er drückte sie leicht und lächelte dabei. Also ließ ich seine Hand nicht mehr los und hörte mir Rubys aberwitzige Überlegung an. Danach konnte ich unsere Freundschaft immer noch kündigen.
„Also... Zuerst zum Geburtsdatum des Kindes... Snapes Tochter kann nicht allzu lange nach Lilys Tod geboren sein. Seine Trauer war noch immer sehr greifbar und längst nicht vergessen. Du bist gerade mal drei Jahre jünger als Harry und der war etwas älter als ein Jahr, als seine Eltern getötet wurden. Es würde zeitlich passen und es erklärt den Sprung in diesem Buch. Eine Weile nach Harrys Geburt hat er wohl versucht, Abstand zu allem zu bekommen.
Dann gibt es noch eine ganz offensichtliche Gemeinsamkeit zwischen dir und Snape. Die Haare. Deine sind genauso pechschwarz wie seine. Ja, ich weiß, es gibt viele Menschen mit schwarzen Haaren, aber man ähnelt seinen Eltern äußerlich eben immer irgendwie.
Außerdem ist da noch dein Name, Lily. Du heißt Lily Eileen Grimmauld... Lily wie seine große Liebe, es wäre nur logisch, dass er seine Tochter nach ihr benennt. Er verbindet einfach sehr viel mit dem Namen. Und seine Mutter hieß Eileen. Das kann kein Zufall sein. Und Grimmauld ist ein Name, den er sich als Nachname ausgedacht haben muss. Vermutlich benannt nach dem Grimmauldplatz Nummer zwölf, das Hauptquartier des Orden des Phönix. Vielleicht als Ausdruck des Guten im Kampf gegen Voldemort und seine Todesser. Er hat's ja so mit seinen Metaphern und Sinnbildern. Zumindest bezweifle ich, dass das ebenfalls ein Zufall ist und deine Mutter vielleicht so heißt. Viel zu unwahrscheinlich." Sie verstummte kurz. Mein Kopf war irgendwie auf Durchzug gestellt und trotzdem bekam ich jedes Wort mit.
„Das sagte doch gar nichts!", wehrte ich mich, aber mir lief eine leise Träne über die Wange.
„Lily... Du bist bei einer Pflegefamilie groß geworden. Gleich nach deiner Geburt wurdest du abgegeben, weil keiner der Todesser von dir erfahren durfte. Snape war vermutlich immer klar, dass Voldemort zurückkommen würde. Er wollte dich beschützen. Deshalb konnte er dich nicht bei sich behalten. Es war zu gefährlich. Du wärst das perfekte Druckmittel gegen ihn gewesen. Und beschützt hat er dich auch hier an der Schule immer", führte Penny fort.
„Ja na klar, Snape war immer lieb zu mir", brummte ich sarkastisch, aber Penny überhörte das einfach.
„Bestes Beispiel ist eure Begegnung neulich Nacht. Er wusste, dass du von der Schule fliegen würdest, wenn er es erzählt. Er hat es verschwiegen, damit du bei ihm bleibst. Und er hat dir danach eingeschärft, dass auch du kein einziges Wort darüber verlieren darfst.
Außerdem hat er dir diesen Heilungstrank gegeben, den du mir später gezeigt hast. Es muss eine eigene Kreation von ihm sein, weil ich so einen Trank noch nie zuvor gesehen habe. Auch in den Büchern steht nichts darüber. Naja, egal. Jedenfalls wäre es ihm bei allen anderen egal gewesen, ob nach der Sache hässliche Narben bleiben oder nicht. Alle anderen hätten es seiner Meinung nach wohl nur verdient. Aber seine eigene Tochter durch so etwas entstellt zu sehen, wenn er doch ein sehr wirksames Gegenmittel zur Hand hat? Ganz sicher nicht. Das würde kein Vater tun. Zumindest kein normaler...
Du hast außerdem ein Ohnegleichen in Zaubertränke bekommen, obwohl du selbst der Meinung bist, dass du das niemals geschafft haben kannst – egal ob das jetzt wahr ist oder nicht. Hättest du keins bekommen, wärst du jetzt nicht mehr in seinem Unterricht. Er würde dich also deutlich seltener sehen. Allerdings gibt es so etwas wie eine Prüfungskommission, die die Leistungen bewertet. So schlecht kannst du gar nicht gewesen sein!
Und, überleg mal, Lily. Er hat dich bisher jedes Jahr im Sommer irgendwie begrüßt, wenn du angekommen bist – wenn auch auf seine typische Snape-Art. So als wollte er einfach nur sicher gehen, dass du den Sommer bei deiner schrecklichen Pflegefamilie überlebt hast. Dieses Jahr fing er gleich damit an, dass du wieder in seinem Unterricht bist. Also insgeheim genau da, wo er dich haben will.
Und zu guter Letzt... Wem, wenn nicht Snapes Tochter, sollte der Raum der Wünsche dieses Buch zeigen? Wer, wenn nicht sie selbst, sollte das Gefühl haben, dass damit ein verdammt wichtiges Geheimnis verbunden ist? Snape hat das Buch dort nicht versteckt, damit es eine beliebige Person findet und in seiner Vergangenheit herumwühlt. Vielleicht kann der Raum ja noch viel mehr, als bloß Dinge zu verstecken. Vielleicht kann er eben diese Sachen den richtigen Personen zu gegebener Zeit überlassen."
Ich schluckte und dachte darüber nach. All das ergab tatsächlich Sinn, aber es wollte nicht in meinen Kopf und mein Innerstes wehrte sich vehement dagegen. Wenn auch ein kleiner Teil in mir hoffte, endlich die Wahrheit zu erfahren, wer meine Eltern waren.
„Er hasst mich, Penny! Ich habe bei ihm so oft nachgesessen wie kein anderer, das hast du selbst gesagt, Ruby!" Ich sah beide mit flehendem Blick an, als könnten sie den Gedanken einfach wieder aus meinem Kopf löschen.
„Wie, Lily, kann der fieseste Lehrer der Schule auf eine einfachere Weise auf eine Schülerin aufpassen und eine Weile alleine mit ihr sein wenn nicht durch ständiges Nachsitzen?", fragte Ruby sanft und strich mir die Tränen von der Wange. Dann zog sie mich in ihre Arme und wiegte uns so lange hin und her, bis meine Tränen, die mir plötzlich wie Sturzbäche aus den Augen quollen, endlich versiegt waren.

„Ich bin die Tochter von Severus Snape?", schniefte ich leise und sah alle wieder an.
„Es klingt logisch, Lily", murmelte Aaron und legte dabei beschützend einen Arm um mich. Ich lehnte mich an seine Schulter und schloss die Augen.
Was sollte ich davon halten? Eigentlich war es unmöglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet ich die verheimlichte Tochter von Professor Snape war, war verschwindend gering. Außerdem war er ein Slytherin. Allerdings wusste ich ja nicht, wer meine Mutter war. Aber Snape? Alles, was Ruby und Penny gesagt hatten, klang tatsächlich plausibel. Aber konnte es wirklich stimmen?
Der Großteil meiner Selbst kämpfte noch immer verbittert gegen diesen Gedanken an. Ich konnte Snape schließlich nicht einmal ausstehen. Aber da war noch immer dieser winzige Teil in mir, der mir jetzt leise zuflüsterte, dass es die Wahrheit war. Dass alles, was meine Freunde gesagt hatten, zutraf. Dass ich tatsächlich das Kind von Severus Snape war.

„Geht es ihnen gut, Miss Grimmauld?" Ich schreckte hoch und schaute die Bibliothekarin Madam Pince erschrocken an. Sie stand vor uns und sah mich skeptisch an.
„Mir geht es gut, danke", murmelte ich nur und versuchte mich an einem Lächeln. Es misslang mir kläglich. Dennoch ging Madam Pince nach einem kurzen Zögern tatsächlich wieder weg, ohne irgendein gehässiges Wort an mich zu verlieren.

„Lasst uns hoch gehen. Ich denke, wir haben alle erst einmal genug zu verdauen. Du solltest dich ein bisschen ausruhen, Lily", meinte Ruby und strich mir sanft durch die Haare.
„Ja, ist gut", murmelte ich und beendete gleich darauf den Muffliato-Zauber.

Dann gingen wir zu viert rauf in den siebten Stock. Ich war wirklich froh, dass wir Snape unterwegs nicht begegneten. Bei meinem Glück hätte das durchaus der Fall sein können. Er würde mir auf der Stelle jeden einzelnen Gedanken aus meinem Kopf saugen. Jeder Schüler wusste, dass er dazu in der Lage war, wenn er es wirklich darauf anlegte.

Einmal in meinem Bett angekommen, verließ ich es auch den ganzen Abend nicht wieder. Ich ließ das Abendessen sausen und grübelte stattdessen ununterbrochen über das, was ich eben erfahren hatte. Ich fand einfach keinen Haken an all dem. Es gab nichts, was irgendwie dagegen sprach. Natürlich war Snape immer extrem mies zu mir gewesen, aber ich war eben eine Gryffindor und die schikanierte er nun mal zu jeder möglichen Zeit. Abgesehen davon hatte er mir nie das Gefühl gegeben, dass er mir ernsthaft etwas antun würde. Klar hatte er mir schon öfter damit gedroht, mich umzubringen – auf welche Weise auch immer. Allerdings äußerte er anderen gegenüber auch immer wieder gerne, wie sehr er Filchs angebliche Foltermethoden schätzte. Es waren immer leere Drohungen gewesen, es steckte nie eine ernsthafte Absicht dahinter.
Konnte Snape also wirklich mein Vater sein? Mein Dad? Die Person, nach der ich mich sehnte, seit ich denken konnte? Ich hatte mich nie wohl gefühlt bei meiner Pflegefamilie, obwohl sie nicht wirklich schlecht zu mir waren. Sie verstanden mich einfach nicht und hielten mein wirkliches Ich vor allen anderen geheim, damit sie selbst nicht als Freaks bezeichnet wurden. Es reichte, wenn ich der Freak war...
Ich hatte immer die Personen vermisst, die ich Mom und Dad nennen konnte. Und jetzt sollte ausgerechnet Snape eine davon sein? Ausgerechnet die Person, von der ich es am allerwenigsten vermutet hätte?
Gedankenverloren spielte ich mit einer meiner schwarzen Haarsträhnen. Schwarz wie die Nacht. Wie Snapes Augen. Die Augen, die mich bei unserer Begegnung im Korridor mit einer Angst betrachtet hatten, die ich zu dem Zeitpunkt noch nicht verstanden hatte. Er hatte Angst gehabt, seine Tochter durch diese dumme Aktion zu verlieren. Mich zu verlieren...    

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Soooooo... Jetzt ist es raus. Was haltet ihr von Rubys und Pennys Meinung?

Snape - Sein letztes GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt