Kapitel 3

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„Also, dann lass und mal schauen, was für Schätze dieses Album hergibt." Grandma klatsche fast schon aufgeregt in die Hände und sah mich erwartungsvoll an. Ich kicherte über ihre kindliche Freude und schlug das Fotoalbum auf. In der nächsten Stunde musste Grandma haargenau so gut wie jedes Foto und die Geschichte dazu erzählen.

All die Geschichten, wie sie ihren Mann kennengelernt hat, wie sie zusammen eine Tochter namens Karen bekamen und ein wirklich schönes Leben geführt hatten, gefielen mir sehr gut. Karen war meine Mutter, sah mir aber in keiner Weise wirklich ähnlich. Grandma meinte nur, dass ich wohl ihre Augen hätte, aber auf den Schwarzweißbildern konnte ich nun wirklich nicht erkennen, ob das der Wahrheit entsprach. Außerdem wusste ich nicht recht, wie ich mich dabei fühlen sollte. Im Grunde fühlte ich mich regelrecht betäubt, wann immer es um Karen ging. Das war seltsam.

Die Zeit war so schnell vergangen, dass wir beide hochschreckten, als eine von Grandmas Erzählungen von einem Surren durchbrochen wurde. „Erwartest du Besuch?" Grandma blinzelte einmal. Dann nochmal. Und nochmal. Den Moment, in dem ihr einfiel, wer da wohl gerade vor der Tür stand, hätte man auch perfekt in einem Foto festhalten können. Ihr Mund klappte auf und sie sah mich vollkommen erschrocken an. Ihr Blick huschte zu der Kuckucksuhr, die über mir hing und vor sich hin tickte. „Herr Gott, ich habe vollkommen die Zeit vergessen. Ich habe ja noch nicht mal mit dem Kuchen angefangen!" Ich erinnerte mich, dass Grandma erwähnt hatte, einen Kuchen backen zu wollen, aber ich hatte das auch vollkommen vergessen. Außerdem dachte ich, dass sie den für mich backen wollte und nicht noch Besuch erwartete hatte.

Grandma stand schnell auf und verließ die Küche. Ich hörte, wie sie etwas in die Gegensprechanlage sagte, verstand es aber nicht. Bevor sie zurückkam, hatte ich das Fotoalbum schon an mich genommen und geschlossen. „Einen Rührkuchen werde ich noch machen können. Der geht schnell", murmelte Grandma zu sich selbst. „Kann ich dir helfen?", fragte ich trotzdem nach. Grandma sah auf und schien erst jetzt zu bemerken, dass ich auch noch da war. Sie schien schon ein wenig schusselig zu sein. Ich verkniff mir ein Schmunzeln. „Wenn du zur Tür gehen könntest und sie aufmachst, wäre das sehr lieb" Ich nickte. „Gern."

Grandma noch einmal zulächelnd, legte ich das Fotoalbum wieder auf den Tisch und ging dann zu der Haustür. Ich wollte gerade die Kette vom Schloss nehmen, als es leicht klopfte. Bevor die Person auf der anderen Seite der Tür noch einmal klopfen konnte, schloss ich auf und öffnete die Tür. Die Tür hatte keinen Spion, also konnte ich nicht sehen, wer vor der Tür stand, aber ich hätte niemals mit so jemandem gerechnet.

Das erste, was ich sah, war eine breite Brust fast auf Augenhöhe mit mir. Auf dem schwarzen Trikot stand in weißen Großbuchstaben „SF" fast komplett umrahmt von einem gelben Streifen. Mein Blick wanderte weiter nach oben, bis ich in zwei haselnussbraune Augen schaute, die mich ebenso verdutzt musterten, wie ich es selbst mit meinem Gegenüber tat.

„Wer?-", begannen wir beide gleichzeitig den Satz. Auf diesen Kerl hatte meine Grandma gewartet und wollte extra für ihn Kuchen backen? Wer zum Henker war er? Ein weiterer Enkel? Das konnte nicht sein. Grandma hätte mir das doch gesagt. Von anderen Familienmitgliedern in meinem Alter hatte mir Grandma nicht erzählt. Sowohl sie als auch Grandpa waren Einzelkinder gewesen.

„Liam", beantwortete mir der Junge meine Frage. Ich brauchte einen Moment, um mich wieder zu sammeln. Ich war noch immer damit beschäftigt, das überaus ansehnliche Erscheinungsbild vor mir zu erfassen. Er musste in meinem Alter sein und trug dazu noch ein Trikot von einer College-Footballmannschaft. Breite Schultern, gut trainiert, kurze braune Haare, durch die er aber mit den Fingern immer noch hindurchfahren konnte – oder eine Frau, schoss es mir durch den Kopf. Sofort schüttelte ich mich heftig, um diesen Gedanken wieder loszuwerden.

„Und du bist?", fragte Liam mich jetzt. Er hatte eine angenehm tiefe Stimme, die zu seinem Erscheinungsbild perfekt passte. Liam sah mich erwartungsvoll an. Es ratterte in meinem Kopf, bis ich verstand, dass er mir eine Frage gestellt hatte. „Oh, sorry. Ich bin Natalie." Ich lächelte in der Hoffnung, dass Liam nichts von meinem konfusen Zustand bemerkte.

Solange ich bei dir binWo Geschichten leben. Entdecke jetzt