Kapitel 6

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Am nächsten Morgen war ich noch vor Grandma wach. Es waren ein paar zwitschernde Vögel, die mich weckten. Grandmas Zimmer befand sich links neben der Küche, weshalb ich so leise wie möglich meinen Kaffee zubereitete und ihr einen Zettel daließ, dass ich unterwegs war. Grandma wusste, dass ich nicht frühstückte, daher machte ich mir keine Sorgen, dass sie mich mit eingeplant hatte. Nach dem Kaffee ging ich ins Bad und machte mich für den Tag fertig.

Ich wollte los und mir ein bisschen die Gegend ansehen und unterwegs vielleicht ein paar Zeitungen kaufen, um nach Wohnungsangeboten zu schauen. Bis zum Semesterbeginn hatte ich noch etwas Zeit, aber ich wollte mich jetzt schon einmal informieren. Grandma wohnte ziemlich weit weg von meiner Universität. Darum wäre es praktischer, sich eine Wohnung zu suchen, die in der Nähe vom Campus lag. Trotz all der Argumente fühlte es sich komisch an, jetzt schon nach einer neuen Bleibe zu suchen, wo ich doch gerade erst in San Francisco angekommen war.

Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Ich hatte alles in Schottland hinter mir gelassen. Meine winzige Wohnung aufgegeben, mich komplett umgemeldet und auch all mein Geld in Dollar gewechselt. Nach Schottland zurückzugehen, war keine Option mehr für mich. Davon abgesehen, gab es Dinge – Menschen – mit denen ich nicht mehr allzu viel zu tun haben wollte. Mein ganzes Leben lang war ich von Menschen umgeben gewesen, die meist eine negative Einstellung zu allem und jedem hatten. Auf Dauer wurde das wirklich anstrengend, gerade weil ich eher jemand war, der versuchte nicht zu schlecht zu denken und eher optimistisch an vieles heranging. Würde ich genauso negativ eingestellt wie die anderen sein, wäre ich sicherlich nicht so weit gekommen, wie ich es heute bin.

Ich streifte eine Zeit durch die Gegend und beobachtete, wie die Straßen immer voller wurden. Die Straßen waren nicht überfüllt, wie es in der Innenstadt sein würde, trotzdem schüchterte mich all dies jetzt schon wieder ein. Ich fand schließlich einen kleinen Supermarkt, in dem ich mir ein paar Tageszeitungen kaufte. Die Kassiererin war eine Dame mittleren Alters. Ihre teilweise schon ergrauten Haare waren zu einem Dutt zusammen gebunden und sie trug einen weißen Kittel, ähnlich einem, die ein Arzt trug, nur mit kurzen Ärmeln. Sie schien ziemlich geschwätzig zu sein, da sie mit jedem an der Kasse ein bisschen plauderte. Vielleicht war das ja hier normal? Der amerikanische Akzent war neu für mich aber doch verständlich. Es würde schwer für mich werden, immer klar und deutlich zu sprechen, aber schon gestern bei Grandma ist mir das, wie ich finde, ganz gut gelungen. Vielleicht würde es mit der Zeit einfacher und normaler werden.

Schließlich war ich an der Reihe. „Guten Morgen. Sie habe ich hier ja noch nie gesehen!" Die Frau an der Kasse sah mich neugierig an. Ich war versucht mit dem typischen schottischen „Aye" zu antworten, besann mich aber sofort eines besseren und nickte nur. „Ich bin gerade erst hergezogen." Die Frau machte große Augen. „Oh, ist das etwa ein schottischer Akzent? Da sind sie aber ziemlich weit gereist." Ich lachte verlegen. Erwischt. „Haben Sie hier Familie? Sind Sie nur zu Besuch?"

Die Frau schien nett zu sein, wurde aber nun doch etwas neugierig. Daher wich ich ihrer ersten Frage aus und sagte: „Ich studiere jetzt hier in San Francisco." Sie nickte. „Dann lernen Sie mal schön fleißig. Das ist sehr wichtig im Leben." Ich nickte lachend. Ja, da hatte die Frau nicht ganz Unrecht.

Nachdem ich schließlich bezahlt hatte, machte ich mich wieder auf den Rückweg zu Grandma. Vor ihrem Wohnhaus angekommen, betrachtete ich wieder das alte, rostige Geländer. Ob man da nicht etwas tun konnte? Ich sah zum wolkenlosen Himmel hinauf. Jetzt war es noch nicht allzu warm. Ich ging die Stufen zur Haustür hoch, als ich merkte, dass ich gar keinen Schlüssel für die Wohnung hatte. Stöhnend schlug ich mir mit der Handfläche gegen die Stirn. Super Natalie. Das ist wirklich super.

Ich wollte gerade bei Grandma klingeln und hoffen, dass sie schon wach war, als die Tür aufging. Ich blickte von der Klingel auf und sah einen Mann mittleren Alters vor mir, der mich ein wenig griesgrämig ansah. „Du bist die Neue im Haus." Ich nickte eingeschüchtert und trat einen Schritt zurück. Dadurch stieg ich eine Stufe wieder herunter und musste meinen Kopf noch weiter in den Nacken legen, um dem Mann ins Gesicht sehen zu können. „Partys gibt es hier nicht und die Drogen kannst du auch außerhalb des Hauses lassen. Haben wir uns verstanden?" Ich blinzelte. Der Mann dachte ja wirklich nur das Beste von mir. „Herbi, lass meine Enkelin in Ruhe", hörte ich eine Stimme rufen, die ganze wie die meiner Grandma klang. Ich sah auf und entdeckte sie oben am Fenster.

Solange ich bei dir binWo Geschichten leben. Entdecke jetzt