Kapitel 6

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Die Silhouette Silberburgs vor der untergehenden Sonne war ein eindrucksvolles Bild. Die namensgebende Burg, die inmitten der Ansiedlung auf einem Hügel thronte, reckte ihre Zinnen weit über die Stadt hinaus in den Himmel. Sie schien uneinnehmbar.

Wir waren die letzten, die durch das gut bewachte Stadttor ritten, bevor es geschlossen wurde. In den Stunden der Dunkelheit kam niemand aus der Stadt hinein oder heraus, es sei denn man vollbrachte es, über die zwei Stockwerk hohe Steinmauer zu klettern, ohne von den Wachposten erschossen zu werden.

Jetzt, wo niemand mehr ein- und auskam, setzte sich auch das Leben innerhalb der Mauern zur Ruh. Dennoch waren die Straßen weit davon entfernt, wie leergefegt zu sein. Zu viele Menschen lebten in Silberburg, um den Schutz zu genießen, den die Stadt ihnen bot. Gerade die Häuser in den äußeren Bezirken standen schief und krumm wie das Wirtshaus, in dem wir vorgestern genächtigt hatten, und hatten dennoch häufig zwei Obergeschosse. Ein Architekt würde bei diesem Anblick wohl in Rage verfallen. Mich hingegen stimmte es traurig.

Mein letzter Besuch in Silberburg war zwei Jahre her. Damals hatte ich die Stadt auf dem Weg zu einem Bankett des Fürsten in einer Kutsche durchquert. Während meine Familie und ich vor den Blicken der Leute abgeschirmt waren, wurde mir auch der Blick auf die Bürger der Stadt verwehrt. Ich hatte nicht gewusst, dass es um sie so bestellt war. Schließlich trug Silberburg seinen Namen nicht nur aufgrund des imposanten Gebäudes in seiner Mitte, sondern vor allem wegen seines Haupthandelsguts – Silber. Es wurde in die ganze Welt exportiert, roh wie verarbeitet. Arbeit musste für die meisten der Einwohner hier vorhanden sein. Dann rief ich mir wieder die hohen, unnachgiebigen Stadtmauern in den Kopf und fand meinen Grund für das Elend vor meinen Augen. Arbeit mochte es genug geben, Platz jedoch nicht. Die Mauern stellten eine unveränderbare Grenze dar und wer vollends am urbanen Leben teilhaben wollte, musste sich ein freies Plätzchen an einem Ort suchen, wo jeder Millimeter des Bodens schon verbaut war. Ihnen blieb nur noch der Weg in die Höhe.

Ren bemerkte meine Reaktion. »Janna, ist alles in Ordnung? Du siehst irgendwie bedrückt aus.«

»Es ist die Stadt«, antwortete ich. »Ich hatte sie mir anders vorgestellt, anders in Erinnerung. Weniger bedrückend.«

»Ist es der Geruch der Menschen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, den gibt es in Königsstadt auch –«. Ich unterbrach mich für einen kurzen Moment, als mir auffiel, dass ich gerade preisgegeben hatte, wo genau ich herkam. Aus Rens Frage konnte ich schließen, dass er angenommen hatte, ich sei vom Land. Um ihn jedoch nicht noch mehr auf die Tatsache zu lenken, die ich gerade offenbart hatte, redete ich schnell weiter. Vielleicht ein bisschen zu schnell. »Es ist nur so, dass hier alles viel enger ist, weißt du? Ich sehe nur diese wie wild zusammengeschusterten Häuser und diese ganzen Menschen und es kommt mir vor, als sei das hier nichts weiter als ein Ameisenhaufen.«

»Ameisen sind sehr organisierte Tiere«, sagte Ren.

Ich konnte mir ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. »Das war vielleicht nicht die beste Analogie. Aber verstehst du, was ich meine?« Und ich bin eine Prinzessin, die ihr Leben im Luxus verbringt und diese Leute hier bemitleidet, anstatt ihnen zu helfen, fügte ich in Gedanken hinzu.

Ren nickte und schwieg einen Moment. »Mir ging es ähnlich, als ich zum ersten Mal nach Silberburg gekommen bin. In meiner Kindheit habe ich die Stadt höchstens ein bis drei Mal im Jahr besucht. Damals war sie beeindruckend. Es war nicht angenehm, so desillusioniert zu werden, aber man gewöhnt sich daran. Außerdem hat Silberburg einen entscheidenden Vorteil – man kann mit Leichtigkeit untertauchen.«

»Dann werde ich diese Eigenschaft wohl zu schätzen lernen«, sagte ich und tätschelte gedankenverloren meine Stute, die seelenruhig durch die nach Hause strömenden Menschenmassen trottete.

Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt