Kapitel 19

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Da wir in der Werkstatt keinen weiteren Anhaltspunkt dazu fanden, wo Vic sich aufhalten könnte, machten wir uns wieder auf den Weg nach Hause. Die Stimmung, die zwischen Ren und mir lag, war ein zwiespältiges Gemisch. Die Ernüchterung darüber, immer noch nicht zu wissen, wo Vic war, wurde überlagert von der Freude über unseren Fund. Eigentlich sollte ich mich schlecht fühlen, weil meine Gedanken nicht mehr voll und ganz bei Vics Abwesenheit waren, sondern immer wieder darum kreisten, wie wir den Grafen mit dem neu gewonnenen Wissen zur Strecke bringen und seinen tückischen Zauber umgehen konnten. Die guten Aussichten hatten ein Gefühl der Überlegenheit in mir entfacht, das vielleicht eine Spur zu wagemutig war, doch ich spürte, dass es Ren nicht anders erging. Während wir, diesmal ohne Eile, die Hauptstraße entlanggingen, konzentrierte sich sein Blick auf keinen bestimmten Punkt in der Umgebung. Seine Gedanken waren nach innen gerichtet. Er plante. Dessen war ich mir sicher. Und ich würde meine Chancen ebenfalls nicht gering einschätzen, dass er darüber sinnierte, wie wir den Aufbewahrungsort von Dags Goldschatz ausfindig machen konnten.

»Warst du jemals nach Einbruch der Dunkelheit in Königsstadt unterwegs?«, fragte Ren nach einer Weile.

Ich musste einen Augenblick darüber nachdenken. Der Gedanke, mein ganzes Leben an einem Ort verbracht zu haben und diesen nur tagsüber gesehen zu haben, erschien mir unwirklich. Wenn ich allerdings versuchte, mich daran zu erinnern, wie die Straßen nach Einbruch der Nacht aussahen, kam kein klares Bild in meinem Kopf zustande. Ich hatte Königsstadt mit Sicherheit einige Male im Dunkeln durchquert, doch war es immer im Innern eine Kutsche gewesen. Nie zu Fuß.

»Nicht wie hier gerade«, antwortete ich. Worauf wollte Ren überhaupt hinaus?

»Es ist anders als hier«, sagte er. Ich sah die Pointe langsam näherkommen. »Es ist viel belebter. Die Nachtwächter drehen ihre Runden, aber sie können nicht jeden Ort gleichzeitig beobachten. Es gibt Schlägereien in und vor Kneipen, Überfälle in Gassen, Einbruch und Diebstahl. Die Kriminalitätsrate Silberburgs ist dagegen erschreckend gering. Zumindest, was die offiziellen Zahlen anbelangt. Würde man sich aber lediglich die kriminelle Aktivität bei Nacht angucken, bleibt Silberburg trotzdem weit hinter Königsstadt zurück. Hier werden Verbrechen am Tage begangen. Vor den Augen aller und doch unbemerkt.«

»Worauf willst du hinaus?«, hakte ich nach.

»Darauf, dass Dags Männer nachts nicht agieren. Der einzige Grund, wegen dem Vic nicht nach Hause gekommen ist, ist, dass er nicht mehr in der Stadt ist.«

»Das könnte sein«, sagte ich. Es war allerdings keine Zustimmung, sondern eine Phrase mit dem Zweck, überhaupt etwas zu sagen.

»Es ist absolut plausibel«, wiederholte Ren einen Satz, den er eben in der Werkstatt schon gesagt hatte. Es klang danach, als wollte er damit eher sich selbst überzeugen als mich. »Sie schaffen das Gold aus der Stadt und benötigen dafür jeden Mann, den sie auftreiben können.«

»Fragt sich nur, wo sie es hinbringen.«

»Exakt.« Ren machte eine Kunstpause. »Aber das wird uns hoffentlich Vic sagen können, wenn er wieder zurückkommt.«

»Und genau da liegt das Problem«, seufzte ich.

»Jetzt müssen wir eben abwarten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie herausgefunden haben, dass Vic versucht zu spionieren. Wieso sollten sie auch? Der Zauber ist dazu gedacht, so etwas zu verhindern. Und wenn sie bemerkt hätten, dass Vic etwas in die Tischplatte geritzt hat, das von Bedeutung ist, hätten sie den Tisch sicherlich nicht als einzigen Gegenstand in der Werkstatt zurückgelassen.«

Ich warf ihm von der Seite einen skeptischen Blick zu. »Versuchst du gerade, diesen Zauber als Vorteil darzustellen?«

»Wir können ihn als solchen nutzen.«

Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt