Wie angekündigt kam mein Bruder am frühen Nachmittag zu Rens Haus. Er wurde von einer Handvoll Wachen begleitet, hielt sich aber ansonsten bedeckt. Niemand sollte wissen, dass die Kinder des Königs sich inmitten Silberburgs aufhielten.
Allerdings würde dies nur noch bis zum nächsten Morgen von Belang sein, denn Adrian verkündete, dass wir am folgenden Tag mit den ersten Sonnenstrahlen abreisen würden. Er hatte sofort Nachricht nach Königsstadt geschickt, sodass wir dort baldmöglichst erwartet würden. Dag würde im Laufe der kommenden Woche ebenfalls nach Königsstadt überführt werden, weswegen auch Ren und Vic uns begleiten sollten, um in einem Prozess gegen den Grafen auszusagen.
Adrian hatte angeboten, dass Tilly und Myrdin uns auch begleiten könnten, doch letzterer lehnte ab. Er wolle keine zweitägige Reise mehr auf sich nehmen wollen. Tilly entschied sich daraufhin bei ihm zu bleiben. Als wir unter uns waren beichtete sie mir, dass der Gedanke ins Königsschloss eingeladen zu werden, sie einschüchterte. Ich drängte sie nicht weiter. Sie konnte mich dort jederzeit besuchen, wenn sie sich bereit dazu fühlte.
So ritten wir am folgenden Morgen als erste durch das Stadttor und machten uns auf den Weg in Richtung Zuhause. Es war merkwürdig an dieses Wort zu denken, denn im ersten Moment kam mir Rens Haus in den Sinn. Obwohl ich dort nur drei Wochen lang gelebt hatte, würde ich es vermissen.
Die langen Stunden zu Pferd verbrachte Adrian damit, von den Ereignissen zu berichten, die er im letzten halben Jahr erlebt hatte. Er begann mit seiner Reise zum Dornenwald.
»Man konnte die Dornen schon lange sehen, bevor man direkt vor ihnen stand«, sagte Adrian mit derselbe Ehrfurcht, die auch Myrdin hatte, wenn er vom Dornröschenfluch sprach. »Sie sehen aus wie ein riesiges Ungeheuer, das nur darauf wartet den zu verschlingen, der töricht genug ist, sich in seine Nähe zu begeben. Doch als wir schließlich vor dem Gestrüpp standen, unser Lager aufschlugen und einige Tage abwarteten, geschah das Unglaubliche. Die Dornen haben sich in Luft aufgelöst. Sie waren verschwunden. Von einer Minute auf die andere. Zunächst dachten wir, es wäre eine Falle. Ein Trugbild, das uns anlocken sollte, doch auch als wir die Schwelle überschritten, an der zuvor die Dornen gewartet hatten, geschah nichts. Daraufhin sind wir weiter in die Tiefen des Schlosses vorgedrungen und fanden Leute vor, die nach und nach aus ihrem hundert Jahre langen Schlaf erwachten. Irgendwann stießen wir auf das Turmzimmer, in dem uns die Prinzessin erwartete. Sie wusste nicht recht, was alles geschehen war, denn hundert Jahre Schlaf vergehen für den Schläfer wohl so schnell wie eine einzige Nacht. Allerdings konnte sie uns erzählen, wie der Fluch lautete, mit dem die böse Fee sie belegt hat.« Mein Bruder hielt an dieser Stelle kurz inne und senkte den Blick. »Sie war dazu verflucht worden, einhundert Jahre lang zu schlafe. Auf die Sekunde genau. Niemand hätte diesen Fluch vorher brechen können. All jene, die es trotzdem versucht haben, sind umsonst gestorben.«
Zuerst traute ich meinen Ohren nicht. Mein Bruder hatte keinen Fluch gebrochen. Er war nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Glücklicherweise. Wäre er nur zwei oder drei Tage früher abgereist, hätten die Dornen ihn womöglich doch das Leben gekostet. Mit einem Ziehen in der Brust schob ich diese Vorstellung schnellstmöglich beiseite.
Die Nacht verbrachten wir in einem Gasthaus am Rande des Waldes, in dem Ren und ich auf der Hinreise unser Nachtlager aufgeschlagen hatten. Das Bett, in dem ich dort schlief, war deutlich komfortabler als der Waldboden, doch ich schlief nichtsdestotrotz schlechter. Am morgigen Abend würde ich meinen Eltern gegenübertreten müssen.
Mit dem Gedanken daran schlief ich ein und wachte noch vor dem ersten Sonnenstrahl damit wieder auf. Den Rest der Reise hätte ich am liebsten weit in die Länge gezogen wie möglich, doch Adrian drängte uns zu Eile, sodass wir einen Großteil der Strecke im Trab zurücklegten.
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Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werden
FantasíaUm nicht länger im Schatten ihres großen Bruders, Brecher des Dornröschenfluchs, zu stehen, ergreift Prinzessin Arianna die Flucht. Ihr Ziel: ein eigenes Abenteuer zu erleben. Da trifft es sich gut, dass sie in einer Spelunke auf Ren trifft. Der sel...