»Glaubst du, Vic kommt heute noch?«, fragte ich und rührte einen Löffel voll Zucker in meinen Tee ein.
Es war später Abend, die Sonne war vor bald drei Stunden untergegangen und wir hatten noch nichts von Vic gehört. Tilly war am Nachmittag zu uns gekommen, hatte mit uns zu Abend gegessen und als ihr Bruder danach immer noch nicht aufgetaucht war, hatte sie sich wieder auf den Weg zurück nach Hause gemacht. Da sie sich keine Sorge machte, wollte ich mir auch keine machen, doch je mehr ich daran dachte, desto unruhiger wurde ich.
»Wie viele Kisten schätzt du waren in der Werkstatt?«, stellte Ren eine Gegenfrage. Er saß gelassen an seinem Platz am Kopfende des Esstischs, doch seit einigen Minuten konnte ich ihn immer öfter dabei beobachten, wie er zur Tür hinüberschielte.
»Na ja, der ganze Raum war voll«, sagte ich, obwohl ich mir dessen nicht mehr sicher war. Dieser Zauber hatte in meinem Kopf herumgepfuscht und je weiter die Ereignisse zurücklagen, desto flüchtiger wurden die Bilder.
»Und es war ein großer Raum«, fügte Ren hinzu. »Sie werden wohl Überstunden schieben müssen, bis sie getan haben, was auch immer sie tun müssen.«
Seine Argumentation konnte mich nur auf rationaler Ebene überzeugen. An dem unguten Gefühl, das mich seit Betreten der Werkstatt nicht mehr ganz losgelassen hatte, änderte sie nichts. Es konnte einfach nicht gut enden, sich in der Nähe dieses Zaubers aufzuhalten.
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte ich, nahm einen Schluck von meinem Tee und stellte fest, dass er noch einen weiteren Löffel voll Zucker benötigte.
Wir saßen eine Weile schweigend beieinander, wie wir es die ganze Zeit getan hatten, seit Tilly gegangen war. Ren hatte mich nicht über mein Gespräch mit Myrdin ausgefragt und ich machte keine Anstalten, ihm davon zu erzählen. Er verdiente es, dass ihm auch mal etwas vorenthalten wurde.
»Wie hast du es eigentlich geschafft, dass dich die Männer in der Werkstatt haben gehen lassen?«, fragte ich schließlich in die Stille hinein.
Ren, der seinen Blick auf die Tischplatte gerichtet hatte, sah überrascht auf. »Stimmt, das habe ich gar nicht erzählt.« Er kratzte sich am Kinn. »Um ehrlich zu sein, war es gar nicht so schwierig. Sie sind permanent auf der Suche nach Männern, die für sie arbeiten. Ob sie immer weiter expandieren oder ihr Verschleiß an Arbeitskräften so hoch ist, weiß ich allerdings nicht. Ich, als Taschendieb, kam ihnen ziemlich gelegen.«
»Obwohl du offensichtlich kein guter warst?«
Ren zuckte mit den Schultern. »Ein guter Dieb hat es nicht nötig, für diese Ganoven zu schuften.«
»Und sie haben es einfach so hingenommen, dass du nicht für sie arbeiten willst?«, hakte ich nach. »Oder hast du dich jetzt doch selbst bei ihnen eingeschleust?«
»Ich habe so getan, als könnte ich kein Lothrisch sprechen. Noch bevor Vic sie dazu bringen musste, haben sie von selbst gesagt, dass sie sich nicht mit mir herumschlagen wollen.«
Ich schmunzelte. »Das habe ich noch gehört, wäre aber nie auf die Idee gekommen, dass das eine Möglichkeit ist, sich aus dieser Situation zu winden. Außerdem hätte ich nur mit Florenisch aufwarten können. Da besteht eine hohe Chance, dass die anderen vielleicht das ein oder andere Wort kennen.«
»Ich glaub nicht, dass die Kerle auch nur ein Wort in einer Fremdsprache beherrschen«, meinte Ren. »Sie haben mich nicht eine Sekunde lang angezweifelt, obwohl mein Akzent wirklich schrecklich ist. Mein Florenisch hört sich wahrscheinlich authentischer an.«
»Was hast du denn für eine Sprache gesprochen?«
Es war komisch, diese Frage zu stellen. Ich hatte das Gefühl, in einen Bereich seines Lebens vorzudringen, den wir, seit wir uns getroffen hatten, voreinander verborgen hielten. Ich wollte ihm nicht sagen, wer ich wirklich war, er sprach im Gegenzug ebenso wenig über seine Familie oder Vergangenheit. Und doch kannten wir uns mittlerweile so gut, dass wir wissen sollten, welche Fremdsprachen der andere beherrschte.
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Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werden
FantasyUm nicht länger im Schatten ihres großen Bruders, Brecher des Dornröschenfluchs, zu stehen, ergreift Prinzessin Arianna die Flucht. Ihr Ziel: ein eigenes Abenteuer zu erleben. Da trifft es sich gut, dass sie in einer Spelunke auf Ren trifft. Der sel...