Ich hatte erwartet, dass sich die Zeit, die wir benötigten, um zu Rens Haus zurückzukehren, sich anfühlte wie eine Galgenfrist. Dem war nicht so – ganz im Gegenteil, je weiter wir die Hauptstraße hinaufgingen, desto mehr entspannte ich mich. Zwar ließ ich meinen Blick noch ab und an über die Menschenmenge gleiten, auf der Suche nach einem bekannten Gesicht oder den Insignien des Königs, doch mir fiel niemand ins Auge. Auch eine Begegnung mit weiteren Reitern des Fürsten blieb uns erspart. Wir schlängelten uns einfach eiligen Schritts durch die Massen an Menschen, zwei Personen unter hunderten.
Ehe ich mich versah, hatten wir Rens Haus erreicht. Wir traten durch die Vordertür ein und gingen sofort in die Küche, um unsere vom Regen durchnässten Mäntel vor dem Feuer trocknen zu lassen. Weder Ren noch Myrdin noch Vic waren da. Gut, es war einfacher Tilly zu erzählen, wer ich war, wenn mich dabei niemand sonst beobachtete.
»Die Männer, von denen du gestern berichtet hast...«, begann ich, ohne auf einen Wink des Schicksals warten zu wollen oder weiteres Nachhorchen Tillys, das mein schlechtes Gewissen weiter hätte wachsen lassen. »Ich glaube, dass diese Männer nach mir suchen.«
Tilly, die ihren Mantel gerade über der Rückenlehne eines Stuhls ausbreitete, hielt inne und sah auf, die Augenbrauen zusammengezogen. »Wieso? Ich dachte, wenn ein reicher Mann nach seiner Tochter sucht, setzt er eine hohe Belohnung aus, weil so die meisten Menschen mitsuchen.«
»Das geht nicht, wenn der Vater der verschwundenen Tochter nicht irgendein beliebiger reicher Mann ist«, rang ich mir die Antwort ab, die Tilly sagen sollte, wer ich.
Das Mädchen allerdings sah mich nur weiterhin mit gerunzelter Stirn an. Bei Myrdin und Ren hatten leichte Andeutungen gereicht, damit sie die Wahrheit erkannten. Tilly hingegen schien die Verbindung, die ich für offensichtlich gehalten hatte, nicht zu knüpfen. Ich griff nach der Lehne des Stuhls, über die ich meinen eigenen Mantel – Katrinas Mantel – gehängt hatte. Ich kam wohl nicht darum herum es auszusprechen.
Ich atmete einmal tief ein. Das hier sollte eine Erleichterung werden. Ich wollte es tun. Ich wollte es Tilly sagen. Und dennoch fiel es mir schwer, die Worte endgültig zu formen. Aber war es leichter, noch einen Atemzug länger zu warten? Die Antwort auf diese Frage war eindeutig.
»Mein Vater ist der König«, sagte ich und wich Tillys Blick währenddessen nicht aus. »Mein voller Vorname lautet Arianna und ich bin die Prinzessin von Lothrien.«
Für einen Moment fühlte ich die Erleichterung, die ich mir herbeigesehnt hatte. Dann sah ich Tillys Reaktion. Sie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, den Mund vor Überraschung geöffnet. Im selben Moment, in dem sich mir ein Lächeln aufs Gesicht stahl, weil ich es endlich hinter mich gebracht hatte, ballte Tilly die Hände zu Fäusten. Ihre Augen verengten sich und die Lippen presste sie zu einem schmalen Strich zusammen.
»Ich erfahre es als letztes«, sagte sie. Es war nicht der Hauch einer Frage herauszuhören.
War sie die letzte, die es erfuhr? Ich konnte nicht sagen, wie es um Vic stand, doch das würde sie unmöglich vertrösten. Tilly war wütend und ich verstand genau wieso. Sie war wütend, wie ich wütend auf meine Familie war. Und es tat verflucht weh.
»Ich glaube, ja«, gab ich ihr die letzte Antwort, die ich ihr schuldete. Meine Stimme klang dünn.
Tilly verschränkte die Arme vor der Brust und richtete sich ganz auf. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass sie gar nicht viel kleiner war als ich. Wie sie dort so stand und mich mit einem anschuldigenden Blick durchbohrte, hatte ich auf einmal das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Ich schluckte es herunter. Sie hatte es verdient, wütend zu sein. Schließlich hatte ich mich ohne zu fragen in ihr Leben gedrängt und ihr dabei eine wichtige Tatsache über mich vorenthalten. Für Ren und Myrdin mochte es keinen Unterschied machen, wie hoch ich in der Hierarchie des Adels einzuordnen war. Für Tilly hingegen erhob ich mich dadurch auf eine ganz neue Instanz. Ich war gesellschaftlich so weit von ihr entfernt wie nur irgend möglich.
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Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werden
FantasíaUm nicht länger im Schatten ihres großen Bruders, Brecher des Dornröschenfluchs, zu stehen, ergreift Prinzessin Arianna die Flucht. Ihr Ziel: ein eigenes Abenteuer zu erleben. Da trifft es sich gut, dass sie in einer Spelunke auf Ren trifft. Der sel...