Kapitel 45

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Eine Weile saßen Ren und ich einfach gegeneinander gelehnt auf dem kalten Steinboden von Dags Schatzkammer. Mir fehlte die Kraft dazu, etwas anderes zu tun. Ich versuchte nicht einmal gegen den Einfluss des Zaubers anzukämpfen. Hinzunehmen, dass die eigenen Erinnerungen auf magische Weise ausgelöscht wurden, sorgte immerhin dafür, dass er keine unsäglichen Kopfschmerzen verursachte.

Vielleicht aber nahm ich diese auch gar nicht erst wahr. Noch immer spürte ich den Rauch und die Hitze des Feuers in meiner Kehle brennen, weswegen ich hoffte, keine ernsthaften Schäden davongetragen zu haben.

Ich konnte nicht genau sagen, wie lange wir dagesessen hatten, als ein lautes Rumpeln die bis dahin nur durch unser Atmen gefüllte Stille durchbrach. Ren und ich fuhren hoch und blickten uns im flackernden Schein der Fackeln an. Seine aufgerissenen Augen spiegelten den Schreck und die ihm folgende Befürchtung wider. Etwas im Haus war zusammengebrochen. Und der Lautstärke der des Geräuschs nach zu urteilen war es ganz in unserer Nähe geschehen.

»Was war das?«, sprach ich die Frage aus, die wir uns beide stellten.

»Etwas, das im Gegensatz zu diesem Gewölbe hier nicht aus Stein besteht«, sagte Ren. »Solange wir hierbleiben, sollte uns nichts passieren.«

»Auch nicht, wenn das ganze Haus über uns zusammenbricht?«

»Das Haus wird nicht völlig in sich zusammenbrechen«, versicherte Ren. »Dag wird Sicherheitsmaßnahmen für den Fall eines Brandes haben.«

Ich war mir unsicher, ob Ren seinen eigenen Worten Glauben schenkte oder nur versuchte mich – und vielleicht auch sich selbst – zu beruhigen. Doch wenn ich ehrlich war, wollte ich letztere Option nicht in Erwägung ziehen. Wir hatten hier unten ohnehin keinen Einfluss auf das, was gerade im Gebäude über uns geschah. Es war zwecklos anzunehmen, dass der schlimmste aller Fälle eintrat, wenn es nur noch weiter an Nerven zehrte. Trotzdem gelang es mir nicht mehr, die Augen zu schließen und abzuwarten, während ich so tat, als wäre alles in bester Ordnung.

»Also denkst du, wir sollen abwarten, bis das Feuer gelöscht ist und Dag sich vergewissert, dass sein Gold noch da ist, wo er es zurückgelassen hat?«

Ren zuckte mit den Schultern. »Wenn wir Glück haben legt das Feuer den Geheimgang zwischen den Wänden frei, aber wenn ich ehrlich bin, will mich nicht darauf verlassen. Dag ist der einzige, der weiß, wo das verfluchte Gold aufbewahrt wird.«

»Der einzige, der sich daran erinnern kann«, korrigierte ich Ren automatisch. »Vic muss auch hier unten gewesen sein. Er hat es nur vergessen.«

»Aber unter welchen Umständen würde Vic sich wieder daran erinnern, wo der Eingang zur Schatzkammer liegt? Würden wir dazu nicht den Zauber aufheben müssen?«

»Müssten wir«, gab ich zu und ließ meinen Blick über die Massen an Gold gleiten, die sich um uns herum auftürmten. Das flackernde Licht der Fackeln tanzte über die matt schimmernden Münzen und Barren. Es war wirklich nur Gold. Kein Silber, keine Edelsteine, nichts anderes. Verfluchtes Gold, hatte Ren gesagt. Kein Zauber. Ein Fluch.

»Spürst du etwas?«, fragte Ren. »Ist es eines der Amul...«

Ich unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. »Nein. Nein das ist es nicht. Es ist nur... Du hast mich auf eine Idee gebracht.«

Ich schnappte nach Luft. »Es ist kein Zauber, der auf dem Gold liegt. Es ist ein Fluch. Und der Fluch liegt auch nicht auf dem Gold selbst, sondern auf Dag. Das war, was ich dir sagen wollte, bevor Dag zum Tanz aufgerufen hat. Ich konnte es noch nicht einordnen, aber er hat eine Verbindung zum Zauber – zum Fluch. Er ist derjenige, der verflucht ist, und jedes kleine bisschen Gold in seinem Besitz ist davon betroffen. Oder hast du oben im Haus auch nur ein Stück aus Gold gesehen?«

»Nein, aber«, Ren hielt kurz inne, als suchte er nach den richtigen Worten, »wieso ist das ein Grund, dass du strahlst, als hättest du von jetzt an jeden Tag Geburtstag?«

»Um einen Zauber aufzuheben braucht man einen fähigen Zauberer – in schwierigen Fällen sogar den Urheber selbst. Einen Fluch dagegen kann jeder aufheben. Sogar mein Bruder, der vermutlich magisch unbegabter ist als du, hat es geschafft, den letzten großen Fluch der heutigen Zeit zu brechen.« Erst jetzt merkte ich, dass sich die klamme Kälte des Kellers in meinem ganzen Körper eingenistet hatte, als sie von der Hitze des Enthusiasmus vertrieben wurde, der sich schlagartig in mir ausbreitete. »Warum sollten wir dann nicht Dags Fluch aufheben können?«

Ren sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Müssen wir dazu nicht erst wissen, wie der Wortlaut des Fluchs lautet, den wir aufheben wollen?«

»Ja, aber ich denke, ich kann ihn herausfinden.« Ich hatte dem Traum, den ich nach unserem Besuch in der Werkstatt gehabt hatte, keine weitere Beachtung mehr geschenkt. Jetzt, wo ich wusste – oder zumindest sicher vermutete – was hinter der Magie steckte, die über Dags Gold lag, ließ er sich jedoch zu gut ins Gesamtbild einfügen, um ihn als einfachen Traum einzustufen. Zu perfekt reihte er sich in die Kette aus Erkenntnissen ein, welche sich mir gerade offenbarte.

»Du kannst den genauen Wortlaut eines Fluches... spüren?«, hakte Ren mit dem größten Maß an Skepsis nach, das ich je aus seinem Mund vernommen hatte.

»Es mag zunächst merkwürdig klingen«, begann ich, »aber nachdem wir in der Werkstatt waren und ich den Zauber – den Fluch – zum ersten Mal gespürt habe, hatte ich einen Traum. Ein Mann – oder eher gesagt die Stimme eines Mannes – hat zu mir gesprochen. Er hat gesagt, dass das Gold allein Dag gehöre und dass niemand anders es sehen, anfassen oder sich daran ergötzen sollte.«

Während ich sie aussprach hallten die Worte erneut durch meinen Kopf, so klar, als hätte ich sie gerade zum ersten Mal gehört. Als stünde der Mann, der sie gesprochen hatte, hier mit uns im Kellergewölbe. Ein Frösteln ging durch meinen Körper und ließ jedes kleine Härchen zu Berge stehen. Als würden abertausende kleine Tierchen über meine Haut krabbeln. Ich schluckte. Dass der pure Gedanke an diesen Wortlaut eine so heftige körperliche Reaktion hervorrief, musste ein Zeichen sein, dass ich auf der richtigen Spur war.

Ren sah mich nachdenklich an. »Angenommen, das ist der richtige und vor allem vollständige Wortlaut«, dachte er laut nach. »Was können wir tun, um den Fluch zu brechen?«

Ich seufzte. »Darüber müssen wir jetzt nachdenken. Der Fluch betrifft, soweit wir wissen, ausschließlich Gold. Besäße Dag kein Gold mehr, gäbe es auch keine Basis für den Fluch und er könnte in sich zusammenbrechen.«

»Ich glaube, diesen Weg können wir ausschließen. Es sei denn du kannst Gold in... Stroh verwandeln oder ähnliches«, sagte Ren mit Blick auf die Goldberge um uns herum.

Ich schmunzelte. »Die Dürre, die unser Land heimsuchen müsste, damit diese Fähigkeit einem einen wirtschaftlichen Vorteil verschafft, ist noch nicht gekommen und vorher wird sich bestimmt niemand daran versuchen. Also ja, diese Herangehensweise können wir außenvor lassen.«

»Was dann? Wenn der Fluch wirklich auf Dag liegt und nicht auf dem Gold selbst, können uns nicht viele Optionen bleiben...«

Es war seltsam, Ren vollkommen ideenlos zu sehen, während ich selbst darauf brannte, des Rätsels Lösung zu finden. Er hatte Recht damit, dass Dags Abwesenheit uns die Angelegenheit um einiges erschwerte, doch der Gedanke daran konnte mich nicht ausbremsen. Es war mir gleich, wie absurd es war, dass ich in einem Ballkleid auf dem Boden eines Kellergewölbes saß und von einer Masse an Gold umgeben war, die nur vom Inhalt der königlichen Schatzkammer übertroffen werden konnte. Denn eines spornte mich an. Ich war mir sicher, dass wir den Fluch brechen konnten. Irgendwie. Und wenn es uns die restliche Nacht kostete, ich würde es versuchen, immer und immer wieder.

Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt