Kapitel 47

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Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, seit ich Adrian das letzte Mal gesehen hatte. Ein halbes Jahr war eine lange Zeit, die mir irgendwann begonnen hatte wie eine Ewigkeit vorzukommen. Jetzt, als er vor mir stand, allerdings kam es mir vor, als hätte ich ihn erst gestern zum Abschied umarmt in dem Wissen, dass die Dornen, welche er zu zerstören beabsichtigte, ihn töten könnten.

Und jetzt stand er hier. Vor mir.

Tränen wallten in meinen Augen auf, die ich zu spät bemerkte, um sie zu unterdrücken. Sollten die Wachen nur von mir denken, was sie wollten. Bevor einer von ihnen jedoch die Gelegenheit bekam einen näheren Blick auf mich zu werfen, hatte mein Bruder die Distanz zwischen uns überbrückt und mich in seine Arme geschlossen.

»Was tust du hier?«, fragte Adrian schließlich. »Wieso bist du ohne ein Wort des Abschieds aus dem Schloss verschwunden?«

»Ich...« Es gelang mir nicht, eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Es brannte mir auf der Zunge, ihm alles zu erzählen, ihn vielleicht sogar anzuschreien, all meine Wut und Eifersucht herauszulassen, die sich in mir angestaut hatte, weil er, der großartige Kronprinz einen Fluch gebrochen hatte und alle Welt ihn bejubelte. Das war es, weswegen ich verschwunden war. Doch obwohl es nur drei Wochen zurücklag, dass ich exakt das gedacht hatte, kam es mir jetzt falsch vor. Es gehörte so viel mehr zu der Geschichte dazu. Und vor allen Dingen wäre es ungerecht Adrian gegenüber, ihm genau jetzt meine ungerechtfertigte, kindische Wut aufzubürden. »Ich musste einfach fort«, antwortete ich daher. »Ich habe es im Palast nicht länger ausgehalten und schließlich bin ich hier gelandet. In der geheimen Schatzkammer des Grafen Dag.« Ich hielt kurz inne. »Wo ist er überhaupt?«

»Er ist irgendwo in seinem Haus, um den Schaden zu begutachten«, sagte Adrian. »Wieso fragst du?«

Da wurde mir klar, dass noch niemand eine Ahnung von dem Goldschatz hatte, der im Keller des Anwesens versteckt lag. Allerdings schien es nicht meine Aufgabe zu sein, den Stadtrat darüber in Kenntnis zu setzen, denn Ren und Vic waren schon in einem Gespräch mit ihm verwickelt. Just in dem Moment, stieß der Stadtrat ungläubig das Wort »Fluch« aus.

»Ein Fluch?«, schaltete sich nun auch Adrian in das Gespräch ein.

»Ja«, bestätigte ich. »Graf Dag hat sich selbst verfluchen lassen, sodass niemand sich an sein Gold erinnern konnte. Was dazu führen sollte, dass niemand von seinem Reichtum weiß, hat er genutzt, um ihn bewusst zu verstecken und illegale Geschäfte abzuwickeln. Gelagert hat er sein Gold in einer Schatzkammer direkt unter seinem Haus, wo Ren und ich bis gerade eingeschlossen waren.«

Adrian legte die Stirn in Falten. »Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie ein Dornenwald sich in Luft auflöst, würde ich euch kein Wort glauben... Außerdem, wer ist Ren?«

»Renier von Rotenfels«, stellte sich Ren eilig vor. »Ich würde mich gerne höflicher vorstellen, aber zunächst müssen wir sichergehen, dass der Graf in Gewahrsam genommen wird.« Er warf meinem Bruder einen eindringlichen Blick zu.

Adrian verstand sofort. »Natürlich.« Er wandte sich an den Stadtrat. »Nehmt den Grafen in Gewahrsam und befragt ihn. Schickt auch ein paar Männer hinunter in die Schatzkammer, die meine Schwester eben erwähnt hat.«

Keiner wagte es, sich dem Befehl des Kronprinzen zu widersetzen. Der Stadtrat teilte seine Männer ein und nach nur zwei Minuten führten sie einen wütend dreinblickenden Grafen aus seinem von außen immer noch prächtig aussehenden Herrenhaus.

Ab jetzt lag nicht mehr in unserer Gewalt, was mit dem Grafen und seinem Gold geschah, doch die Aussagen von Vic und den anderen Männern, die Dags Gold transportiert hatten, sollten genügen. Hinzu kam meine Schilderung des Fluchs, die sich mit den wütenden Ausrufen des Grafen deckten, der die Wachen lautstark davon zu überzeugen versuchte, dass das Kellergewölbe, in dem wir eingeschlossen gewesen waren, vollkommen leer sei.

Irgendwann begann der ganze Trubel sich zu legen und Adrian sagte: »Wir sollten wieder nach Silberburg fahren. Man hat uns dort Gemächer im Haus des Stadtrates vorbereitet, in denen wir übernachten können.«

So verlockend es klang, die Gastfreundschaft des Stadtrates auszunutzen, es gab nur ein Bett, in dem ich jetzt schlafen wollte, um die Strapazen der letzten Stunden hinter mir zu lassen. Außerdem konnte ich Tilly, Myrdin und auch Mariella nicht vorenthalten, was während Dags Abendgesellschaft geschehen war.

»Ich habe die letzten Wochen in Rens Haus gewohnt«, sagte ich. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse, wenn ich dort übernachte, bis wir wieder nach Hause fahren.«

Ich rechnete mit Widerworten, damit, dass er mir vorwarf verantwortungslos zu sein, doch Adrian nickte nur. »In Ordnung. Wir können weiteres in der Kutsche oder – noch besser – morgen besprechen.«

***

So kam es, dass wir – Ren, Adrian, Vic und ich – in die Kutsche stiegen und die nächsten beiden Stunden hauptsächlich damit verbrachten zu gähnen und nicht einzuschlafen. Die ersten Sonnenstrahlen lugten schon hinterm Horizont hervor, als wir die Tore Silberburgs erreichten und glücklicherweise sofort eingelassen wurden. Um diesen Vorteil, den der königliche Stand mit sich brachte, war ich ausgesprochen glücklich.

Vor Rens Haus wurden wir schon von Myrdin, Tilly und Mariella begrüßt, die so aussahen, als hätten sie sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Mein Bruder verließ die Kutsche nicht, richtete aber seine besten Grüße aus und sagte, er würde uns zum Nachmittag hin hier wieder treffen.

»Es war ein Fluch«, war das erste, was ich sagte, als wir uns alle in die Küche drängten, um uns am Tisch zu versammeln und ein letztes Mal Informationen über den geplanten, wenn auch nicht umgesetzten, Diebstahl von Dags Gold zu teilen.

»Und ihr habt diesen Fluch gebrochen?«, fragte Myrdin, als er uns allen eine Tasse Tee eingoss. »Wie habt ihr das überhaupt herausgefunden?«

Wir lieferten Myrdin und den anderen die kürzt möglichste Erklärung. Zwischendurch erzählte auch Vic, was geschehen war, nachdem ich Dags Arbeitszimmer in Brand gesetzt hatte. Anscheinend hatte der Graf versucht, es als Unfall zu verkaufen. Wir endeten damit, wie wir es geschafft hatten den Fluch zu brechen und wie das zeitige Auftauchen meines Bruders, der sich rein zufällig dazu entschieden hatte, der Suche nach mir beizutreten und in Silberburg zu beginnen, dazu geführt hatte, dass Dag problemlos verhaftet werden konnte.

Der Lärm der Stadt begann langsam auf den Straßen Einzug zu halten, als wir unsere Erzählung endeten. Alle gingen zu ihren Zimmern, bis am Ende nur noch Ren und ich in der Küche verblieben.

»Du solltest schlafen gehen«, sagte er.

»Du auch«, erwiderte ich.

Wir sahen uns einige Momente lang in die Augen. Momente, in denen sich mein Herzschlag beschleunigte, in denen mir das Blut in die Wangen schoss und es in meinem Bauch zu flattern begann. Wir hatten heute Nacht einen mächtigen Fluch gebrochen und somit den dreistesten Verbrecher des gesamten Reichs überführt. Und trotzdem war dies nicht das, was ich an diesem Tag am stärksten gewollt hatte. Dieser Platz stand einer Sache zu, die noch nicht getan hatte.

Langsam ging ich auf Ren zu, nahm seine Hände in meine, beugte mich vor, schloss meine Augen und küsste ihn.

Noch nie hatte ich so gefühlt. Unsere Lippen trafen aufeinander und es fühlte sich so richtig an, wie noch nie etwas zuvor in meinem Leben.

Irgendwann lösten wir uns wieder voneinander und das erste, was ich sah, als ich meine Augen wieder öffnete war das strahlende Lächeln auf seinen Lippen.

»Das wollte ich schon seit längerem tun«, murmelte ich.

»Ich auch«, erwiderte Ren und unsere Lippen trafen sich erneut.

Der Tag hatte gerade erst begonnen und schon fühlte er sich an, als könnte er der beste in meinem Leben werden.

Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt