Kapitel 16

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Unwillkürlich schlich sich ein Bild von riesigen Dornenranken in meinen Kopf, die den alten Mann langsam umschlangen, ihn immer fester und weiter zu sich zogen, während ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht lag. Ich konnte nicht glauben, dass er sich dieses Ende wünschte. Es war doch vollkommen absurd, so etwas in Erwägung zu ziehen.

»Du hast versucht die Dornen zu besiegen und bist ihnen entkommen – und das anscheinend unverletzt. Sollte das nicht eigentlich ein Grund zum Feiern sein?«

»Sie haben ihre Spuren hinterlassen«, meinte Myrdin nur.

»Ich kann keine sehen, also kannst du kaum von mir verlangen, dass ich auch nur versuche, es zu verstehen, wenn du nicht mit mir darüber sprichst.«

»Wenn du es unbedingt wissen willst«, der alte Mann spie die Worte fast aus, »die Dornen haben mich getötet. Nicht auf der Stelle, aber sie fordern langsam ihren Tribut. Immer mehr und immer, bis nichts mehr übrigbleibt und ich sterbe.«

Ich wartete einen Moment, bis ich das Offensichtliche ansprach. »Der Fluch ist gebrochen. Er dürfte keinen Einfluss mehr auf dich haben.«

»Er hat etwas in die Wege geleitet, das nicht mehr aufgehalten werden kann.«

»Und selbst wenn er dich langsam tötet, du bist ein alter Mann. Es mag bitter klingen, aber du bist wahrscheinlich älter als viele Leute es jemals werden. Ist es da überhaupt noch etwas wert, sich über die Auswirkungen eines Fluches zu beschweren?«

Ich wusste, dass ich eine Grenze überschritten hatte. Hatte es gewusst, bevor ich die Worte laut ausgesprochen hatte. Dass ich mich nicht zurückgehalten und die Gebote des guten Benehmens geachtet hatte, die wohl jedes Kind im Reich beherrschte, bereute ich jetzt zutiefst. Ren hatte Myrdin absichtlich verletzt. Ich hatte dies als schlecht befunden und war trotzdem keinen Deut besser.

Myrdin allerdings schien sich entweder nicht so sehr an meiner Frage zu stören oder er hatte einfach keine Kraft mehr, mich dafür zu rügen. »Ja, der Verlust ist es wert.«

Langsam beschlich mich, dass mehr hinter Myrdins Zusammentreffen mit den Dornen steckte. Dass Magie stärker involviert war, als ich zunächst angenommen hatte. Für einen kurzen Augenblick kam mir eine Idee, die unwirklicher zu sein schien als alles, was ich bisher erlebt hatte. Was, wenn die Dornen Myrdin einen früheren Tod bescherten, indem sie ihm Lebenszeit gestohlen hatten? Vielleicht war er gar kein alter Mann...

Bevor ich mir zu viele Gedanken machte und wilde Geschichten spann, die wahrscheinlich nicht im Geringsten der Wahrheit entsprachen, fragte ich: »Myrdin, wie alt bist du?«

Der Alte saß schweigend in seinem Sessel und starrte auf den Boden. Einzig das Heben und Senken seines Brustkorbs verriet mir, dass er keine Statue war – oder eines plötzlichen Todes gestorben. Obwohl er keine Antwort gegeben hatte, war mir klar, dass sein Alter mit all dem zusammenhing, dem ich gerade versuchte, auf die Schliche zu kommen. Ich hatte also immerhin etwas in Erfahrung gebracht.

»Du musst nicht antworten, wenn...«

»Ich bin 438, nein, 437 Jahre alt.«

Ich wartete auf ein Lachen, das mir signalisierte, dass Myrdin einen Witz gemacht hatte. Es kam keines. Er war wirklich uralt. Ein uralter Magier. Ich suchte mit der rechten Hand Halt am Türrahmen.

»Also bist du doch ein Zauberer«, brachte ich schließlich heraus.

Myrdin schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich würde dich dahingehend belügen, nur, um keine fünf Minuten später das Gegenteil zu behaupten?«

»Magie ist der einzige Weg, um das Alter eines Menschen über das Natürliche hinaus zu verändern. Gib mir eine bessere Erklärung, über die die weisen Frauen vielleicht nicht Bescheid wissen. Du scheinst ja ohnehin kein hohes Bild von ihnen zu haben. Was im Übrigen dafür spricht, dass du mit Magie mehr als nur theoretisch bewandert bist.«

Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt