Kapitel 18

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Mariella lebte über einem Pfandleihhaus in einer winzigen Seitengasse. Die Stufen, die zu ihrem Zimmer im zweiten Stock führten, waren noch schmaler als die zu Tillys und Vics Wohnung, sodass ich eher das Gefühl hatte, eine Leiter hinaufzusteigen. Dass ich dabei kaum erkennen konnte, wohin ich trat, machte die Angelegenheit wenig besser.

Erneut klopfte Ren energisch an. Es dauerte länger als bei Tilly, bis die Tür schließlich geöffnet wurde.

»Ren«, hörte ich eine Frauenstimme sagen. Sie klang überrascht.

»Ich nehme an, Vic ist nicht bei dir«, sagte Ren.

»Nein.« Die Frau seufzte. »Kommt doch herein.«

Ich folgte Ren und Tilly in die Wohnung von Vics Verlobten. Es war ein einziger Raum, der ausgestattet war mit einem Bett, einem Esstisch samt Stühlen und einem großen Schrank. Mehr fand dort keinen Platz. Im Kerzenlicht konnte ich nun auch einen Blick auf Mariella werfen. Sie war in etwa so groß wie ich, hatte dunkelbraune Haare, die sie zu einem dicken Zopf geflochten trug. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Als sie mich erblickte zog sie ihre feinen Augenbrauen nach oben.

»Du bist also das Mädchen, das Ren aufgegabelt hat«, sagte sie. Ich war mir nicht sicher, ob es eine Feststellung oder eine Anschuldigung sein sollte.

»Ja, ich bin Janna.«

»Mariella«, sagte Mariella und wandte sich wieder Ren zu. »Wo sollte Vic sein? Er wollte es mir nicht verraten.«

»Er hat bei einer Bande angeheuert, die vermeintlich für Graf Dag arbeitet. Heute waren sie in einer Werkstatt, wo sie etwas gelagert haben. Janna und ich waren auch da. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Vic am späten Abend bei mir vorbeischauen wird, aber er ist nicht aufgetaucht und jetzt ist er weder zu Hause noch bei dir.«

»Großartig. Ich wünschte, ihr wärt damit nicht zu mir gekommen. Ich muss morgen mit dem Sonnenaufgang anfangen zu arbeiten und will mir nicht den ganzen Tag über sorgen machen.«

»Es tut mir leid«, sagte Ren mit gesenktem Blick und gesenkter Stimme.

»Ach was.« Mariella strich sich eine imaginäre Haarsträhne hinters Ohr. »Du bist nicht für Vics Entscheidungen verantwortlich. Niemand zwingt ihn dazu, Handlanger für irgendeinen großen Verbrecher zu spielen. Er freut sich wahrscheinlich noch darüber, dass er doppelt bezahlt wird.«

Für einen kurzen Moment stahl sich ein Lächeln auf Rens Gesicht. »Na gut, aber Sorgen mache ich mir trotzdem. Es ist Magie involviert und wir können noch nicht sagen, bis zu welchem Grad. Es könnte sein, dass jemand mitbekommen hat, dass Janna und ich einen Blick in die Werkstatt geworfen haben und Vic jetzt dafür zur Rechenschaft ziehen.«

»Vic weiß, zwischen welche Rippe man einer Person sein Messer stechen sollte, wenn sie einen angreift«, sagte Mariella.

Es war bemerkenswert, wie resolut sie war. Doch vielleicht versteckte sie die Angst um ihren Verlobten auch einfach nur hinter einer starken Fassade. Was ich jedoch mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass sie Vics kriminelle Anwandlungen deutlich gelassener hinnahm, als es seine Schilderungen hatten vermuten lassen.

»Wenn er hier auftaucht, gib uns sofort Bescheid«, sagte Ren. »Janna und ich werden noch einmal zur Werkstatt gehen, um zu prüfen, ob sie vielleicht noch dort sind oder die Umgebung andere Hinweise liefert. Ist es in Ordnung, wenn Tilly bei dir bleibt?«

»Natürlich«, antwortete Mariella. Sie klang augenblicklich sanfter.

Tilly protestierte nicht. Wahrscheinlich war sie zu müde oder einfach zu vernünftig, um sich mit uns in die Höhle des Löwen zu begeben. Ich hingegen wägte einen Moment ab, ob ich meine Stimme gegen die Idee erheben sollte, erneut die Werkstatt aufzusuchen. Auch die Vorstellung von Unken, die einst Männer waren, konnte jetzt das ungute Gefühl nicht vertreiben. Allerdings gefiel mir weder die Aussicht, allein nach Hause zurückzugehen noch in Mariellas Zimmer, der Wohnung einer mir Fremden, zu bleiben, das in etwa die doppelte Größe meines Raumes bei Ren hatte. Es war besser, wenn ich mit Ren ging. Außerdem konnte ich es als Lob betrachten, dass er gar nicht infrage stellte, dass ich ihn begleitete.

Von einer Prinzessin, die auszog, um Heldin zu werdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt